Urteil 12 Jahre nach Amoklauf an Schule: Finnland hat zu wenig getan
Der Staat habe damals genügend Hinweise auf die Tat gehabt, urteilt der Menschenrechtsgerichtshof. Finnland habe seine Schutzpflicht verletzt.
„Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt“, heißt es in Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Und gegen dieses Recht habe Finnland verstoßen, befand der Gerichtshof in Straßburg in einem am Donnerstag veröffentlichten Urteil: Er habe es nämlich versäumt, einen Terroranschlag zu verhindern, weil seine Sicherheitsorgane die Mordwaffe des Täters nicht rechtzeitig konfisziert hätten, obwohl es ausreichend Anhaltspunkte für eine bevorstehende Tat gegeben habe.
Es geht um eine zwölf Jahre zurückliegende Tat: Das Schulmassaker von Kauhajoki am 23. September 2008. Mit einer halbautomatischen Waffe schoss ein 22-jähriger Berufsschüler in einem Berufsausbildungszentrum eine Stunde lang um sich und tötete neun MitschülerInnen und einen Lehrer, bevor er sich selbst das Leben nahm.
Wie sich bald herausstellte, gab es vorab viele Hinweise auf die mögliche Tat. Über mehrere Monate hinweg stellte der 22-Jährige Videos ins Netz, die ihn bei Schießübungen zeigten. Das Schulmassaker von Columbine 1999 bezeichnete er als „beste Unterhaltung, die es jemals gab“, in einem Internetforum kündigte er ausdrücklich ein „Kauhajoki School Massacre“ an.
Die Sicherheitsbehörden waren auf den Täter aufmerksam geworden. Eine Woche vor der Tat beschloss die Polizei, seine Waffe zu beschlagnahmen, traf ihn aber nicht an. Am Vortag der Tat führte dann ein Polizeikommissar ein Gespräch mit ihm, hielt aber ein weiteres Tätigwerden für nicht erforderlich und beschlagnahmte die Waffe dann doch nicht – der Schüler konnte einen Waffenschein vorlegen. In Finnland war es damals der zweite Schulamoklauf binnen eines Jahres. Im November 2007 hatte ein 18-Jähriger in Jokela acht Menschen getötet.
30.000 Euro Schmerzensgeld für Angehörige
19 Angehörige der Opfer von Kauhajoki riefen den Europäischen Gerichtshof an, nachdem der fragliche Polizeikommissar zwar wegen fahrlässiger Dienstpflichtverletzung verurteilt wurde und eine Warnung erhielt, es sonst aber keine Rechtsfolgen gegeben hatte.
In seiner Urteilsbegründung führt der Menschenrechtsgerichtshof jetzt aus, dass ein Staat angesichts des hohen Risikos, der mit einem Gebrauch von Schusswaffen verbunden sei „unbedingt ein System angemessener und wirksamer Schutzmaßnahmen einführen und konsequent anwenden muss, um einer missbräuchlichen und gefährlichen Verwendung solcher Waffen entgegenzuwirken und sie zu verhindern“.
Esa Puranen, Anwalt
Die Beschlagnahmung der Tatwaffe wäre angesichts der Informationen, die die Polizei hatte, die „angemessene Maßnahme“ gewesen. Weil diese nicht erfolgt sei, habe der finnische Staat seine Aufsichtspflichten verletzt.
Der Gerichtshof macht klar, dass er nicht die Entscheidungen nationaler finnischer Behörden und Gerichte aufheben oder ändern kann. Er verurteilt Finnland dazu, den Familien der Opfer jeweils 30.000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen und auch deren Gerichtskosten zu tragen. Seine Klienten seien mit dieser Entscheidung zufrieden, ihren Verlust könne ihnen sowieso niemand ersetzen, teilte der Anwalt der Angehörigen, Esa Puranen, mit: „Es wurde klargestellt, dass das finnische Justizsystem seiner Verantwortung nicht nachgekommen ist.“
Martin Scheinin, Professor für Internationales Recht am „European University Institute“ in Florenz begrüßte gegenüber dem finnischen Fernsehen Yle das Urteil: Es stelle eine neue Interpretation staatlicher Schutzpflichten dar. „Ich hoffe, dass dies ein neuer europäischer Standard werden wird.“ Eine offizielle Stellungnahme der finnischen Regierung gibt es noch nicht. Sie kann das Urteil binnen drei Monaten anfechten.
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