Unterwegs an Orten, die nur uns gehören: Ein Schlupfloch ins Früher

In einem Park an der Elbe entdeckte ich einen Baumstumpf, in dem jemand eine Geschichte zurück gelassen hatte. Es gibt viele Orte dieser Art.

Passanten gehen mit einem Hund im Hamburger Jenischpark spazieren.

Irgendwo könnte auch hier ein Schatz liegen: der Hamburger Jenischpark Foto: dpa / Marcus Brandt

Wir alle tragen Geheimnisse im Herzen. Wir zelebrieren das Leben und den Tod und die Erinnerung. Mit Ritualen. Und der Wiederkehr an Orte, die nur uns gehören. Jedes Leben hat sein Geheimnis und seine Geschichte. Wir spüren nur Fragmente davon. Bei uns selbst und anderen. Und aus diesen Fragmenten reimen wir unsere Geschichten.

Ein Park in Hamburg-Altona, oberhalb der Elbe. Von hier geht es abschüssig den Hang hinunter. Es nieselt. Die Hafenkräne liegen im Dunst. In der Ferne hält eine Frau ihren Hund bei Schritt. Sonst ist keiner da. Der Regen beschützt den Park. Es ist, als wäre alles unter einen grauen, schweren Wolkenbogen gehüllt. Wie in einer Schneekugel.

Als der Regen stärker wird, gehe ich zu den Bäumen, die am Abgrund stehen. Der Regen tropft auf die Blätter. Tep, Tip. Ein schöner, behaglicher Klang.

Dann entdecke ich den Baumstumpf: ein breit abgesägter, flacher Stamm. Hier muss einmal ein sehr alter, dicker Baum gestanden haben.

Der Baumstumpf ist hohl. In ihm liegen dutzende Glasflaschen übereinander: Bier. Bis tief nach unten gefüllt. Der hohle Baum erinnert an Pippi Langstrumpf und ihren Limonadenbaum.

Entweder ist das ein Pfandversteck oder jemand hat hier immer wieder getrunken, verschiedene Biersorten, vielleicht saßen Menschen um diesen Stamm zusammen.

Dann erst sehe ich den Hund. Er ist eingelassen in die Oberfläche des Baumstumpfs.

Ein zentimetertiefes Rechteck ist aus der Stammoberfläche gesägt. Darin ist ein Foto von einem Hund gesetzt. Ein mittelgroßer Hund mit hellem Fell. Über das Foto ist eine durchsichtige Flüssigkeit gegossen und ausgehärtet worden, vielleicht Acryl. Es muss Arbeit gewesen sein, das Holz so auszutiefen, das Foto einzulassen, es zu übergießen, sodass es die Witterung überdauert.

Vor dem Bild auf den Stamm hat jemand ein kleines Stöckchen abgelegt. Hinter dem Baumstumpf liegen zwei Backsteine aneinandergelehnt.

Foto, Flaschen, Steine.

Ein Schatz im Wald. Wer hatte das hierhergetragen?

Ist das hier ein Grab? Liegt in der Nähe der Hund vom Foto?

Kommen Menschen für ihn zum Stamm, um seiner zu gedenken?

Der Ort ist eine Frage. In seiner Tiefe steckt eine Geschichte. Ein Geheimnis. Hier wird etwas aufbewahrt.

Ich stehe still und schaue: Der Regen tropft von den Blättern. Die Hafenkräne recken sich in den Himmel, ein Schiff tutet, die Luft ist feucht. Das Gras leuchtet grün.

Ich spüre ein Flüstern. Eine Höhle der Erinnerung. Etwas Kindliches, Spielerisches, Beschütztes.

Baum, Erde, Spuren.

Liebe und Tod. Der Hund bleibt im Baum.

Inmitten dieses Parks liegt im Verborgenen dieses persönliche Plätzchen. Die Bedeutung um einen Hund und die Menschen, die er begleitete.

Was für Orte gibt es noch da draußen, Ritzen, in denen ein Geheimnis liegt? Ein Schlupfloch, um von dort aus in ein Früher oder in die Fantasie zu gehen?

Ich erinnere mich, wie ich mit einem Kind in den Wald ging. Es wollte Höhlen sehen und bauen. Es hatte Angst vor dem Wald und gleichzeitig Lust, ihn zu entdecken. Wir gingen ab vom Weg, hinein ins Gehölz. Die Sonne flirrte durch die Bäume, ein Specht hämmerte gegen einen Baum. Und dann auf einmal stießen wir auf dieses Wurzelloch im Boden. Ein paar Zweige lagen darüber. Darin waren verschiedene Münzen. Zwei-Euro-, Ein-Euro-, Cent-Stücke. Blinkend im Sonnenlicht. Geld, das jemand versteckt hatte. Ein Schatz im Wald. Wer hatte das hierhergetragen? Wessen Geheimnis war das? Auch das Kind verstand, dass hier etwas Heiliges war. Wir knieten und schauten in das Loch. Aber wir holten das Geld nicht heraus. Wir ließen es im Versteck, im Heimlichen.

Und immer noch denke ich an den Ort am Meer. In Rostock am Strand. Ich ging dort am Ufer entlang. Steine knirschten unter meinen Füßen. Links war ein Birkenwäldchen, rechts ging der Blick aufs Meer. Dann auf einmal lag ein Blumenstrauß am Ufer. Dabei ein Stein und ein Zettel. „Ich vermisse dich so, Mama.“ Ein Gedenken, eine Erinnerung.

Ein Herz, ein Geheimnis, vor dem offenen Meer.

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Christa Pfafferott schreibt die Kolumne "Zwischen Menschen" für die taz. Sie wurde zum Dr. phil. in art. an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg promoviert. Sie hat zuvor Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule absolviert. Sie lebt als Autorin und Regisseurin in Hamburg.

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