Unterhauswahl in Japan: Kein großes Herz für Politiker
Skurrile Regelungen schränken den Wahlkampf für das Votum am Sonntag ein. Posten können vererbt werden. Beides stützt die Dauerregierungspartei LDP.
Auf dem Wahlkampfkleinbus prangen sein Name, sein Konterfei und das Kürzel der liberalen CDP. Sie ist Japans größte Oppositionspartei. Der hochgewachsene, grauhaarige Mann gürtet sich eine Schärpe mit seinem Namen um, stellt sich auf den Bürgersteig und wirft in seiner Rede der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP) dunkle Geldgeschäfte, Vererbung von Ämtern und Anhäufung von Privilegien vor.
„Solange wir das nicht ändern, gibt es keine glückliche und gesunde Zukunft für Japan“, ruft der Oppositionspolitiker. Aus den Lautsprechern auf dem Kleinbusdach schallen seine Worte ohrenbetäubend laut über den Bahnhofsvorplatz.
Doch niemand bleibt zum Zuhören stehen. Die meisten wenden nicht einmal den Kopf in seine Richtung. Das geringe Interesse erstaunt: Schließlich rumort es im Wahlvolk heftig wegen eines Finanzskandals in der Regierungspartei. 82 LDP-Abgeordnete hatten insgesamt 3,5 Millionen Euro an Einnahmen nicht ordnungsgemäß angegeben.
Der neue Premier Shigeru Ishiba strebt bei der Neuwahl des Unterhauses am 27. Oktober mit seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP) ein frisches vierjähriges Mandat an. Mit seinem Partner, der buddhistischen Komei-Partei, will Ishiba eine einfache Mehrheit erreichen. Die Koalition könnte dann bis zu 55 Sitze verlieren und bliebe immer noch an der Macht.
Größte Oppositionspartei ist die Konstitutionelle Demokratische Partei Japans (CDP), Nachfolgerin der zentristischen Demokratischen Partei (DPJ), die 2009 bis 2012 regierte. Zweitstärkste Oppositionsgruppe ist die Japan Innovation Party (Nippon Ishin no Kai), die auf liberale Reformen drängt und damit liebäugelt, der Regierung beizutreten.
Schwache Vertretung von Frauen in der Politik ist das auffälligste Manko. Im aufgelösten Parlament betrug der Frauenanteil nur 10 Prozent. Zwar ist jetzt jeder vierte Kandidat weiblich, ein Nachkriegsrekord. Bei der LDP sind aber nur 16 Prozent der Bewerber Frauen. (mf)
Trotz schlechter Umfragen dürfte die LDP weiter regieren
Der Rücktritt von Premier Fumio Kishida zum 1. Oktober, die Auflösung interner Machtgruppen sowie Strafen für 39 Mandatsträger halfen der LDP, die Japan seit 1955 fast ununterbrochen regiert, nicht aus dem Umfragekeller, sodass sie bei dieser Wahl erstmals seit 2009 ihre Mehrheit verlieren könnte.
Zum Regieren bräuchte sie dann ihren kleinen Partner, die buddhistische Komeito. „Es ist eine äußerst harte Wahl mit beispiellosem Gegenwind“, gestand der neue Regierungschef Shigeru Ishiba.
Dennoch erwartet Rintaro Nishimura vom Politikberater Asia Group, dass die Koalition aus LDP und Komeito weiterregieren wird. „Das Wahlsystem nützt der LDP“, meint Nishimura. Zwei Drittel der 465 Mandate werden per einfacher Mehrheit direkt vergeben. Wo sich die Oppositionsparteien nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen können, setzt sich häufig der LDP-Vertreter durch.
Lokale Lobbys wie Bauern und Baufirmen unterstützen ohnehin meist die LDP. Nur ein Drittel der Mandate wird per Zweitstimme proportional zu den Parteianteilen anhand ihrer Listen bestimmt.
Kleine Poster, kaum Reden, kein Haustürwahlkampf
Skurrile Vorschriften schränken den Wahlkampf so ein, dass sich die Opposition nur schwer Gehör verschaffen kann. Öffentliche Reden dürfen Politiker nur in den zwölf Tagen vor dem Wahltermin halten. Ihre maximal DIN-A2 großen Wahlposter müssen die Kandidaten an eine vorgeschriebene Stelle auf den wenigen offiziellen Wahlständern kleben. Das beliebte, da auffällige rote Herzsymbol um ihr Gesicht herum darf höchstens 42 Zentimeter hoch sein.
Statt einer politischen Aussage betont die Wahlwerbung den Namen der Kandidatin oder des Kandidaten. Auf dem Wahlzettel muss man nämlich die Schriftzeichen des Namens mit der Hand schreiben.
Daher stehen die Kandidaten frühmorgens vor den Pendlerbahnhöfen und wiederholen im 15-Sekunden-Takt unter ständigen Verbeugungen ihren Namen. Tagsüber fahren sie mit einem Lautsprecherwagen durch die Straßen, winken mit weißen Handschuhen aus dem Fenster und nennen in Endlosschleife wieder nur ihren Namen mit der Aufforderung zur Wahl. Mehr ist gesetzlich nicht erlaubt.
An Haustüren zu klingeln, ist verboten, das Verteilen von Geschenken wie Kugelschreibern ebenfalls. Wahlwerbung per E-Mail geht nur, wenn der Empfänger vorher zugestimmt hat. Immerhin ist die Wähleransprache über soziale Medien wie Twitter und YouTube seit elf Jahren zugelassen – aufgrund einer Fehleinschätzung der Behörden.
„Damals konnte man sich nicht vorstellen, welche Bedeutung diese Medien einmal bekommen“, erklärt der Politologe Harumichi Yuasa von der Tokioter Meiji-Universität. Doch diese Wahlwerbung erreicht nur Japaner, die sozialen Medien folgen.
Politdynastien sind „Rassepferde der Politikwelt“
Personalmangel bremst die Wahlkampfaktivitäten zusätzlich. Bis auf Fahrer und „Announcer“ in den Lautsprecherbussen müssen alle Wahlkampfhelfer ehrenamtlich arbeiten. Einzig erlaubter Tageslohn sind eine Bento-Essensbox für 6 Euro und Süßigkeiten für 3 Euro.
Das erklärt, warum die LDP über viele Jahre auf die Mitglieder der aus Südkorea stammenden Vereinigungskirche als willfährige Wahlkampfhelfer zurückgriff. Im Gegenzug tolerierte die LDP, dass die Sekte ihre japanischen Angehörigen finanziell auspresste.
Auch die traditionelle Vererbung von politischen Ämtern nützt der Regierungspartei: Den Wahlbezirk Gunma Nummer 4, zu dem Takasaki gehört, dominiert Tatsuo Fukuda. Jeder kennt den Namen dieser LDP-Dynastie, weil sein Vater und Großvater von hier ins Parlament einzogen und jeweils Premierminister wurden.
„Rassepferde der Politwelt“ heißen solche prominenten Politiker, die sich generationsweise im Parlament ablösen. Fast jeder dritte LDP-Abgeordnete gelangte als Kind oder Enkel eines vorigen Mandatsträgers ins aktuelle Parlament, indem sie Namen, Wahlbezirk und Spender erbten.
Skandalpolitiker ist auch ohne Wahlkampf siegessicher
Dank dieser Boni siegte auch Fukuda schon vier Mal. Allerdings läuft es diesmal nicht so glatt wie gewohnt: Auch Fukuda füllte eine schwarze Kasse, wenn auch nur mit 6.000 Euro. Daher strich ihn seine Partei, so wie 33 andere Abgeordnete, von ihrer Liste für die proportional vergebenen Sitze.
Doch Fukuda braucht keine Absicherung über die Parteiliste, er dürfte auch jetzt direkt gewinnen. Sein Gegenkandidat Yamada, dem am Bahnhof niemand zuhören wollte, ist ein politischer Neuling und stammt nicht aus der Region.
Fukuda lässt ihn einfach ins Leere laufen. Unter dem Slogan „Neustart“ tritt der 57-jährige Dynastie-Sprössling nur vor loyalen Unterstützern auf und verzichtet auf Reden an Bahnhöfen. Zur Ausrede verweist er auf seine zeitraubende neue Aufgabe als amtierender LDP-Generalsekretär.
In Wirklichkeit will er, dass traditionelle LDP-Wähler möglichst wenig von seiner Verfehlung mitbekommen. „Dieser Wahlbezirk ist fest in der Hand der LDP“, seufzt Yamadas Wahlkampfhelferin Chika Setsumi fast resigniert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Der Fall von Assad in Syrien
Eine Blamage für Putin