Unsound-Festival in Krakau: Wohin wir tanzen
Das Unsound-Festival forscht an der Grenze des Hörbaren. Was auf den Bühnen klanglich geschieht, wird im Gesprächsforum auf die Probe gestellt.
„You have the possibility now to write music that exists only in our collective mind … what is happening right there in the middle in the vacuum?“, fragt eine Stimme in den holzgetäfelten Ballsaal des Hotels Forum. Anna Zaradny, eine Größe der polnischen Elektronikszene, läuft auf der Bühne konzentriert um einen Tisch, dreht an Knöpfen, fabriziert Knistern, spielt Samples ab. Ein durchlaufender gerader Puls interessiert sie nicht, minutenlang lässt sie Text und Inhalt der eingewobenen Aufnahme dominieren.
Im Nebenraum gestaltet Zaradnys Landsmann Paide das vollkommen anders. „Sonic Waves Enthusiast“ steht auf seinem Shirt, und passend dazu jagt er den Rhythmus über sonische Basswellen ganz unmittelbar durch den Leib in die Füße. Es ist die erste von drei großen Feiern in dem modernistischen Bau, einem ehemaligen sozialistischen Prestigehotelprojekt, allesamt Teil des Unsound-Festivals in Krakau.
Zum vierzehnten Mal hat Mat Schulz das Unsound kuratiert. Dislocation lautet das bewusst offen gehaltene Konzept. Die Musik, die hier ihren Platz findet, sucht nach der Grenze des Machbaren, Hörbaren, nach neuen Klängen und Wirkungen, neuer Technik, forscht in neuen intermedialen Brückenschlägen, neuer Aufführungspraxis, neuen Themen.
Schulz’ursprüngliche Motivation, das Festival zu organisieren, erwuchs aus der Begeisterung für die sozialistische Untergrundmusik Polens. Damals wie heute ist das Festival fest in der Szene des Landes verwurzelt – und unmittelbar mit dem Politischen in der Musik verknüpft. Als eine von vielen möglichen Interpretationen von dislocation finden sich schwerpunktartig Künstler auf dem Festival, die Elemente traditioneller Musik aus verschiedenen Kulturkreisen in einen neuen Kontext transportieren.
Kulturhybridisierung oder Imperialismus
Etwa das Kollektiv F5 aus Uruguay, die mit live gespielten Candombé-Trommeln Techno einen neuen Taktgeber leihen. Eomac aus Irland, der hier „Bedouin Trax“ erstmals vorstellt, mischt islamische Musik zu Techno. Und der libanesische Künstler Rabih Beaini, der mit dem ersten Schlag jedes Sets hinter seinem Pult wild zu tanzen anfängt, trifft mit einer 808-Drum-Machine auf das indonesische Duo Senyawa, die Klangtraditionen ihres Landes mit theatralischem Metal auf selbstgebauten Instrumenten kombinieren.
Was auf den Bühnen klanglich geschieht, wird im Gesprächsforum diskursiv auf die Probe gestellt. Florian Meyer, als Don’t DJ auf der Bühne, fragt im Talk „Authentic Exoticism“, ob das Verwenden exotischer Elemente eine positive Kulturhybridisierung sei – oder vielleicht doch eher Teil des westlichen Imperialismus.
Da während der Vorbereitungen des Festivals mit dem Brexit eine unerwartete Form von dislocation für das internationale Organisationsteam Realität wurde, beschlossen die Kuratoren, mit Absicht als Zeichen gegen das Auseinanderdriften britische Künstler hervorzuheben. Samstagnacht gehörte die große Bühne im Forum ausschließlich britischen Künstlern.
Viele der geladenen Künstler thematisieren aktuelle Entwicklungen. Das griechische Kollektiv Embassy For The Displaced zeigte „Where Land Meets Sea“, einen Kunstfilm über die Zustände auf der Insel Lesbos, wo Tausende Geflüchtete strandeten, den der britische Ambient-Noise-Künstler Helm vertonte.
Dean Blunt mit seinem Projekt Babyfather geht Gesellschaftskritik in seinen Texten subversiver und persönlicher an, rappt über Alkoholprobleme und Eifersucht, Sex und wie er nicht funktioniert und provoziert aus dem Nebel aus Dampf und Bass heraus in alle Richtungen. Death Grips, die ihr erstes Konzert in Polen spielen, treffen trotz ähnlich bissigem Gestus und ihrem charakteristisch garstigem Sound vor allem auf Jubel und springende Massen.
Überhaupt ist das meiste von dem, was hier erklingt, vor allem ein direktes körperliches, bislang meditatives Erlebnis. Die Industrial-Ambient-Kooperation Body Sculptures bestreitet das letzte Konzert am Sonntag gemeinsam mit der Sinfonietta Cracovia in der Filharmonia Krakowska. Synthesizer und verzerrter Wave-Gesang treffen auf klirrende Bläser und Streicherflimmern, bis ein allumfassendes Dröhnen den Klangraum ganz und gar für sich einnimmt. Die Augen sehen die Geigen wild spielen, die Ohren hören nichts.
Führt man sich die Unmöglichkeit eines ähnlich gewagten Klangexperiments am selben Ort vor dreißig Jahren vor Augen, erhält man eine weitere Randnotiz über die politische Dimension von Klang.
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