Unschuldig im Gefängnis: Verdächtig des Justizirrtums
Saß Manfred Genditzki 13 Jahre lang unschuldig im Gefängnis? Der sogenannte Badewannenmord wird verhandelt – zum dritten Mal.
Am 28. Oktober 2008, so hatte das Gericht damals geurteilt, habe Genditzki in einer Wohnanlage, in der er als Hausmeister arbeitete, die 87-jährige Liselotte K. in ihrer eigenen Badewanne ertränkt. Der angebliche Grund: Der Mann habe Liselotte K. zuvor im Verlauf eines Streits bewusstlos geschlagen und diese Tat dann verdecken wollen.
Nein, ein Happy-End kann es bei diesem Wiederaufnahmeverfahren so oder so nicht geben. Wenn denn alles so abgelaufen ist, wie es der Angeklagte darstellt – und darauf deutet viel hin – und er am Ende freigesprochen werden sollte, bleiben dennoch mehr als 13 Jahre, die Manfred Genditzki im Gefängnis saß. Jahre, in denen seine beiden jüngeren Kinder heranwuchsen, in denen seine ersten Enkel geboren wurden, in denen er seine Familie nur bei gelegentlichen Besuchen im Gefängnis sehen konnte.
Es klingt fast verharmlosend, wenn Genditzki selbst nur von einem „Auf und Ab der Gefühle“ und von „vielen schlechten Tagen“ spricht, die er im Knast verlebt habe.
Wacklige Indizienlage
Für seine Anwältin Regina Rick ist es denn auch nicht weniger als ein Justizskandal, was da an diesem Mittwoch in die dritte Runde geht, wie sie in der Mittagspause vor dem Saal erneut in die Kameras schimpft. Eines ist es in jedem Fall: ein Stück Justizgeschichte. Denn Wiederaufnahmeverfahren sind sehr selten, die juristischen Hürden hierfür sehr hoch.
Im Gerichtssaal hat Genditzki seine graue Strickjacke ausgezogen. Im weißen Hemd sitzt er aufrecht auf seinem Stuhl, die Hände im Schoß. Er schaut den Staatsanwalt unverwandt an, während dieser die Anklage verliest. Zwei, drei mal ein leichtes, kaum merkliches Kopfschütteln. Einmal legt ihm die hinter ihm sitzende Anwältin beruhigend eine Hand auf den Rücken, flüstert ihm kurz etwas zu.
Den Text, den der Staatsanwalt vorliest, hört Genditzki nicht zum ersten Mal. Die Anklageschrift trägt das Datum des 18. August 2009, war schon Grundlage des ersten Verfahrens. Doch seither hat sich viel getan. Nicht nur wurde Genditzki zweimal aufgrund einer wackligen Indizienlage zu lebenslanger Haft verurteilt, erstmals 2010 und dann noch einmal in der Revision 2012. Es gab auch neue Gutachten und Aussagen, die die ursprüngliche Argumentationskette der Staatsanwaltschaft erschütterten.
Liselotte K. lebte vor ihrem Tod in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Rottach-Egern am Tegernsee. Genditzki war in ihrer Wohnanlage Hausmeister und kümmerte sich insbesondere nach dem Tod ihres Mannes um die alte Frau, erledigte Einkäufe, fuhr sie zu Terminen, trank Kaffee mit ihr. Laut Staatsanwaltschaft war er ihre „wichtigste Bezugsperson“. Zusätzlich gab es einen Pflegedienst, der täglich vorbeischaute, vor allem um die Medikamenteneinnahme zu überwachen.
An jenem Oktobertag hatte Genditzki Liselotte K. gerade aus dem Krankenhaus geholt, wo sie wegen Darmproblemen für fünf Tage gewesen war. Genditzki brachte sie nach Hause, trank noch einen Kaffee mit ihr und verließ die Wohnung. Als eine Mitarbeiterin des Pflegediensts am frühen Abend vorbeikam, fand sie die Frau angezogen in ihrer eingelaufenen Badewanne liegen, ein Bein hing über den Wannenrand. Liselotte K. war tot.
Motiv: ein bloßer Streit?
So weit sind sich alle Seiten über den Hergang der Ereignisse einig. Doch was die Todesursache angeht, da gehen die Schilderungen auseinander. Während Genditzki angab, das Haus nach dem gemeinsamen Kaffee verlassen zu haben, ohne dass etwas Besonderes vorgefallen sei, kamen Polizei und Staatsanwaltschaft schnell zu der Auffassung, dass sie es hier mit einem Gewaltverbrechen zu tun haben. Vom „Badewannenmord“ war in der Folge stets die Rede. Im Visier hatten sie Manfred Genditzki.
Zu Beginn des ersten Verfahrens war die Staatsanwaltschaft noch der Ansicht, der Hausmeister habe während des Krankenhausaufenthalts von Liselotte K. insgesamt 8.000 Euro, Schmuck und zwei Pelzmäntel aus ihrer Wohnung gestohlen. Nachdem K. den Diebstahl entdeckt habe, habe Genditzki ihn durch den Mord verdecken wollen.
Im Verlauf des Prozesses entdeckte die Staatsanwaltschaft jedoch, dass es für diese Annahme keine ausreichenden Anhaltspunkte gab und ließ den Vorwurf des Diebstahls wieder fallen. Da dieser allerdings das Motiv für den angenommenen Mord darstellte, argumentierte sie in der Folge nur noch, es sei zu einem Streit aus nichtigem Anlass gekommen.
Dass es sich um keinen Unfalltod gehandelt haben konnte, schloss das Gericht vor allem aus dem Gutachten des Rechtsmediziners, der K. obduzierte. Demnach hätte die Tote anders in der Badewanne liegen müssen, wenn sie gestürzt wäre. Außerdem habe die Leiche zwei Hämatome am Kopf festgestellt, die nicht von einem Sturz hätten herrühren können.
Computersimulation zeigt: Sturz wäre möglich gewesen
Das Gericht folgte dieser Argumentation in beiden Verfahren. „Die Kammer ist nach Würdigung aller Umstände davon überzeugt, dass als Täter nur der Angeklagte in Frage kommt“, so ließ das Gericht nach der zweiten Verurteilung am 17. Januar 2012 verlauten. Was aber, wenn es gar keine Tat gab?
Auf diese Möglichkeit deutete schon damals einiges hin – zum Beispiel das fehlende Motiv. Doch inzwischen verdichteten sich die Hinweise massiv. So hat Genditzkis Anwältin Regina Rick mit Hilfe privater Spender ein neues Gutachten in Auftrag gegeben, das mittels einer Computersimulation zeigt: Der Sturz wäre so möglich gewesen. Auch die Hämatome habe sich Liselotte demnach bei dem Sturz zuziehen können.
Ein thermodynamisches Gutachten kam zudem zu dem Schluss, dass der Todeszeitpunkt wesentlich später gelegen haben muss, als ursprünglich angenommen. Genditzki gäbe dies ein Alibi. Auch die These des Gerichts, es habe keinen Grund für Liselotte K. gegeben, selbst Wasser in die Wanne einlaufen zu lassen, da sie zu der Zeit nur noch mit Hilfe des Pflegediensts badete, scheint mittlerweile zweifelhaft: Eine Bekannte von K. hatte sich Jahre nach der Verurteilung gemeldet und berichtet, dass die alte Frau die Angewohnheit gehabt habe, ihre Wäsche immer in der Badewanne vorzuwaschen.
Vertrauen erworben, nicht erschlichen
Trotz der gewichtigen Argumente, verwarf die 1. Strafkammer am Landgericht Ende 2020 einen Wiederaufnahmeantrag von Anwältin Rick als unzulässig. Das Oberlandesgericht gab jedoch einer Beschwerde Ricks gegen diese Entscheidung statt. Am 12. August 2022 ordnete die 1. Strafkammer dann die Wiederaufnahme an und setzte Genditzki auf freien Fuß.
Zu Beginn des Wiederaufnahmeverfahrens am Mittwoch verliest Anwältin Rick eine Erklärung, in der sie Genditzki als überaus korrekten Menschen beschreibt. Nie habe er ein Gewaltdelikt begangen, sich auch nur geprügelt. Nie habe er etwas gestohlen. Im Gegenteil: Einmal habe er etwa die Wohnung einer Verstorbenen ausräumen sollen. Als er dabei zwei Schachteln mit Goldschmuck entdeckt habe, hätte er diese unbemerkt mitgehen lassen können. Stattdessen informierte er die Angehörigen.
So habe er sich auch das Vertrauen von Liselotte K. nicht erschlichen, wie die Staatsanwaltschaft behauptet, sondern durch seine korrekte Art und Hilfsbereitschaft erworben. Sie schildert den Ablauf der Geschehnisse aus der Sicht ihres Mandanten und schließt: „Herr Genditzki hat ihr nichts getan. Er saß 13 Jahre und sieben Monate unschuldig im Gefängnis.“
Ob dies tatsächlich so ist, ob sich die bayerische Justiz hier einen gravierenden und vermeidbaren Irrtum wird vorwerfen lassen müssen, darüber hat nun das Gericht unter der Vorsitzenden Richterin Elisabeth Ehrl zu befinden. 20 Verhandlungstage hat sie dafür angesetzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind