Ungebetene Menschenmeinungen: Harald Martensteins Opinionporn
Insgeheim sehnt sich unser Autor nach Harmonie. Womöglich ist nun doch endlich mal Zeit für einen gründlichen Social-Media-Detox.
I m Verlauf der Pandemie ist es mir zur morgendlichen Routine geworden, als Erstes Küche, Schrank und Internet von ungebetenen Gästen zu befreien: Motten klatschen, Spacken blocken. Psychohygiene und Schädlingsbekämpfung ähneln einander frappierend, nicht zuletzt in dem verlässlich damit verbundenen Gefühl, dass einem hier etwas unaufhaltsam über den Kopf wächst. Kleidermotten, Mehlmotten, Menschenmeinungen. Immerzu habe ich die unterschwellige Ahnung einer lastenden Sorge, die sich bei näherer Betrachtung doch wieder nur als irgendein Bullshit entpuppt, den irgendwer ins Internet geblasen hat, nicht selten auch ich selber. Die Nerven liegen blank.
Denn nur weil ich in diversen Artikeln vehement zur weiteren Spaltung der Gesellschaft aufrufe, heißt das noch lange nicht, dass ich mich nicht insgeheim nach Harmonie sehne. Gerade wer Öl ins Feuer gießt, hat es bekanntlich einfach gerne nur besonders warm. Und schließlich war doch alles nur Satire, höhö – wer regelmäßig „Tatort“ guckt, weiß ja, was das ist: immer haargenau das Gegenteil von Wirklichkeit.
Aber langsam bin ich es leid. Ich merke, dass ich mich mit mir selbst nicht mehr wohl fühle. Denn einem Harald Martenstein beim Doing-Martenstein-things zuzusehen und sich von diesem Opinionporn so gewollt wie zuverlässig erregen zu lassen, ist das eine. Aber dass der Puls auch steigt, nur weil liebenswerte Mitmenschen andere Meinungen vertreten, ist eigentlich nicht normal. Das war doch früher nicht so, oder? War ich, waren die anderen, waren wir wirklich die ganze Zeit über schon so scheiße?
Es liegt wohl doch an der Seuchensituation. Der Kollege Paul Bokowski bemerkt dazu: „Das gezielte Herunterfahren sozialer Kontakte in Kombination mit der ständigen psychosozialen Belastung macht uns die mühevoll erlernten Kommunikationsskills kaputt.“ Bezeichnenderweise schreibt er das auf Instagram. Auf Facebook würden ihm die dort den Ton angebenden harschen alten Männer und Frauen auf unschöne Weise demonstrieren, wie recht er hat.
Kontraproduktive Kraftverschwendung
Vor allem erscheint es mir so überflüssig. Denn es gibt so viel Wichtigeres als diese kontraproduktive Kraftverschwendung an Nebenkriegsschauplätze, wie jenem Affentheater neulich um die diktaturmüden Schauspieler, die Merkel eine Aktentasche mit verbalem Sprengstoff unter den Besprechungstisch gestellt hatten. Die meisten Echauffeure hätten sich bestimmt easy auf den größten gemeinsamen Nenner einigen können, dass die Damen und Herren Mimen keine Nazis sind, dass sie nur ihr Bestes gegeben haben und dass das womöglich nicht besonders viel ist.
Stattdessen habe ich schon wieder Schaum vorm Mund, sobald ich bloß dran denke. Sich nicht einzumischen, klappt bei mir zwar oft ganz gut, doch was hilft das, wenn an meiner kleinkarierten Krämerseele zugleich das Unbehagen nagt, und ich die Zähne runterknirsche bis zum Kieferknochen. Das ist nicht gesund.
Neuerdings habe ich deshalb immer öfter das Gefühl, man müsse jetzt endlich mal abrüsten. Zuerst natürlich die anderen, die sind ja noch weitaus aggressiver und unvernünftiger als ich, die dummen Arschlöcher. Oder sollte ich doch erst selbst in Vorleistung gehen? Der Klügere tut so, als gäbe er nach. Dann tritt er zu.
Ach, ich sehne mich so nach Frieden, innerem wie äußerem. In mir schält sich der zarte Wunsch nach einem gründlichen Social-Media-Detox heraus, und wächst nun zunehmend zu einem strammen Entschluss heran, der bereits vorsichtig, aber kühn an der Entscheidung schnuppert: Na, wie riecht das? Gar nicht mal so übel – nach Autonomie, nach Ruhe und, ja, nach echter Freiheit.
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