Ungarns Akademie der Wissenschaften: Akademische Autonomie am Ende
Die Mitarbeiter der Ungarischen Wissenschaftsakademie fürchten um ihre Jobs. Viktor Orbán versucht die Institution unter Kontrolle zu bekommen.
Er ist erst 40, wirkt aber deutlich älter, denn seit Anfang Januar schläft er kaum noch. Er arbeitet nämlich für eine der fünfzehn Forschungseinrichtungen der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, die seit Januar unter Berufung auf eine geplante Umstrukturierung keine Fördergelder mehr bekommen. Seitdem ist der sonst schüchterne Zoltán Sprecher der Facebook-Gruppe der akademischen Mitarbeiter: ein Forum von Hunderten Akademikern, die um ihre Zukunft bangen und auf ihre Lage aufmerksam machen wollen.
Szűcs bestellt sich eine Suppe und einen riesigen Nachtisch mit viel Schokolade und Schlagsahne und stellt kopfschüttelnd fest, dass er ständig Süßigkeiten essen muss, seitdem der Stress mit der Akademie angefangen hat. Ihn bekümmert einiges: Er hat einen dreijährigen Sohn, zahlt eine Wohnungshypothek ab und hat außer seiner Forschungstätigkeit keinen anderen Job. Wie lange er diesen noch hat, ist zurzeit völlig ungewiss.
Ähnlich geht es den rund 5.000 Mitarbeitern, die zum Forschungsnetzwerk aus fast allen wissenschaftlichen Bereichen gehören. Ihrem Präsidium wurde im Juni 2018 mitgeteilt, dass etwa 70 Prozent des jährlichen Budgets, rund 90 Millionen Euro, dem neuen „Innovations- und Technologieministerium“ unterstellt werden. Künftig soll also Viktor Orbáns treuer Technologieminister László Palkovics bestimmen, wie die Fördergelder verteilt werden – für Szűcs ist dies das Ende der akademischen Autonomie.
Der Grund der jetzigen Umstrukturierung könnte mit dem Ende der aktuellen EU Subventionsperiode zusammenhängen. In der nächsten Subventionsperiode ab 2021 soll die EU vor allem Forschung und Innovation fördern. Um diese Gelder neu verteilen zu können, baut die Regierung ein eigenes Netz regierungstreuer Denkfabriken und Forschungsinstitutionen aus.
Absurde Situation
Die geplante Umstrukturierung ähnelt einer Machtdemonstration, deren Details allerdings undurchdacht sind und zu absurden Situationen führen. In einem der betroffenen Forschungszentren befindet sich ein Versuchskernkraftwerk, das seit Januar auch keine Betriebskosten wie für Elektrizität oder Sicherheitsvorkehrungen bekomme, erzählt Szűcs. Bis Ende März soll das Forschungszentrum sich nun erstmals um diese Finanzierung bewerben.
Auch Literaturforscherin Sarolta Deczki gehört zum „Forum der Akademischen Mitarbeiter“ und ist bei Facebook sehr aktiv. Die 42-jährige Forscherin mit einem Doktortitel in Philosophie trägt ein kariertes Hemd und Leggins und redet unverblümt. Dreizehn Jahre ihres Lebens habe sie in die Forschung investiert und verdiene, wie Szűcs, bescheidene 570 Euro. Von diesem Geld könne man keine Reserven für Rente, Krankheiten oder gegen existentielle Unsicherheit bilden, fügt sie entnervt hinzu. „Viele Akademiker sehen sich jetzt gezwungen, verzweifelt nach einem anderen Job zu suchen.“
Viktor Orbán hat bereits seinen Herrschaftsanspruch auf Bereiche wie Kultur, Theater, Universitäten und Medien ausgedehnt und unter seine Kontrolle gebracht. Da fehlt ihm noch eine der letzten Bastionen demokratischen Widerstands, die größte Wissenschaftseinrichtung des Landes, die Ungarische Akademie der Wissenschaften.
Das Facebook-Forum organisierte Mitte Februar als Mahnruf eine Menschenkette rund um die Akademie. Auch Zoltán Gábor Szűcs und Sarolta Deczki waren dabei, letztere wurde in den Nachrichten zitiert: „Ich sage seit Jahren, wenn es so weitergeht, werde ich eines Tages in Berlin kellnern!“
Und das ist gar nicht so weit hergeholt, denn Wissenschaftlerinnen, die sich wie Deczki mit feministischer Literatur beschäftigen sind der rechtskonservativen Regierung ein Dorn im Auge. Zeitgleich mit der Neuaufteilung des Akademie-Budgets veröffentlichte die regierungsnahe Zeitschrift Figyelő eine schwarze Liste mit Namen von Forschern, die zu Themen wie Rechte von Homosexuellen, Einwanderung oder Gender publizieren.
Feind der Ungarn
„Wer traditionelle patriarchale Rollen infrage stellt, gilt als Feind der Familie und Feind der Ungarn“, beteuert Deczki. „Dass wir die wichtige Frage der Rolle der Frau in der literarischen Kanonbildung untersuchen, das passt nicht ins Regierungskonzept, laut dem die Frau in die Küche gehört.“
Ob die Ungarische Akademie der Wissenschaften und ihr Forschungsnetzwerk den ideologischen Kampf und die Zentralisierungswelle überleben, oder der schleichenden Umstellung der Finanzstruktur zum Opfer fallen, bleibt vorerst offen. Fest steht: Mit solch einer Unsicherheit kann keine Forschung langfristig geplant werden und erfolgreich sein.
In einem offenen Schreiben warnen die Mitarbeiter des Netzwerks Anfang Februar, ihr Problem sei von europäischer Bedeutung. Zum ersten Mal könnte ein EU-Mitgliedstaat offen das Prinzip der Wissenschaftsfreiheit verletzen.
Auch deutsche Forschungsorganisationen unterstützen das Anliegen der Akademie mit Solidaritätsbekundungen. Ulf Brunnbauer, Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg (IOS) befürchtet in einer Stellungnahme, dass es im Sinne der von Orbán gepredigten „illiberalen Demokratie“ nicht um eine Reform der Akademie gehe, sondern um die Unterbindung unabhängiger Forschung. „Es ist eine traurige Ironie, dass eine rechtskonservative Regierung zu dem Wissenschaftsmodell des Stalinismus zurückkehren will.“
Das Präsidium der Akademie leistete bis Anfang März konsequent Widerstand und forderte eine Förderungsgarantie für alle Forschungseinrichtungen. Dennoch: Laut einer dubiosen Vereinbarung zwischen Technologieministers Palkovics und László Lovász, dem Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften vom 8. März ist zu befürchten, dass diese zu einem ungünstigen Kompromiss gezwungen wird. Für Szűcs, Deczki und die anderen jungen Forscher bleiben die Nächte jedenfalls erst einmal sehr unruhig.
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