Ungarn verhängt „Gefahrenzustand“: Orbán kann besser durchregieren
Nach Corona zieht Ungarns Premier jetzt den Krieg in der Ukraine für Sondergesetze heran. Erste Maßnahme: eine Sondersteuer für Großunternehmen.
Wien taz | In Ungarn herrscht seit Donnerstag null Uhr akute Gefahr. Mit dem Argument, der Krieg in der Ukraine bedrohe auch die Sicherheit Ungarns, hat Premier Viktor Orbán am Dienstag die Verhängung des „Gefahrenzustands“ erklärt. Dieser ermächtigt den Regierungschef, vom Gesetz nicht gedeckte Maßnahmen zu ergreifen, ohne das Parlament einzuschalten. Als Erstes dekretierte er eine Sondersteuer auf Gewinne von Großunternehmen.
Dem Auftritt Orbáns war eine Sondersitzung des Parlaments vorausgegangen, in der die zehnte Verfassungsänderung in ebenso vielen Jahren beschlossen wurde. Sie ermächtigt die Regierung, im Fall eines Kriegs oder einer humanitären Katastrophe in einem Nachbarland den Notstand auszurufen. Mit seinen Sondervollmachten wolle er, so Orbán, die Folgen des Kriegs in der Ukraine sowie die kritische Lage der Weltwirtschaft bewältigen.
Der Gefahrenzustand ist einer von sechs in Artikel 54 der Verfassung vorgesehenen Ausnahmezustände. Er unterscheidet sich vom Nationalen Krisenzustand, dem Notstand, dem Zustand der Terrorbedrohung, dem präventiven Verteidigungszustand und dem Zustand eines unerwarteten Angriffs. Gemeinsam haben diese Ausnahmezustände, dass sie den Regierungschef mit Sondervollmachten ausstatten.
Die Maßnahmen, die ergriffen werden können, sind im Katastrophenschutzgesetz geregelt. Dazu gehören Ausgangsverbote, Demonstrationsverbote und Eingriffe in den Verkehr. Sie verlieren ihre Gültigkeit, wenn sie nicht binnen 14 Tagen vom Parlament abgesegnet werden.
Die Spielregeln den eigenen Bedürfnissen angepasst
Orbán scheint es diesmal vor allem um wirtschaftliche Maßnahmen zu gehen. Wer die Abstimmungsmaschinerie des ungarischen Parlaments, wo Orbáns Fidesz eine Zweidrittelmehrheit hat, kennt, der weiß, dass Gesetze innerhalb von 24 Stunden durchgepeitscht werden können. Verordnungen können binnen weniger Minuten verfasst und unterzeichnet werden. Außerdem sieht die Geschäftsordnung des Parlaments nur vier Sonderverfahren innerhalb von sechs Monaten vor.
„Ungarns Regierung passt die Spielregeln einmal mehr ihren eigenen Bedürfnissen an“, schreibt Emese Pásztor, die Direktorin des Projekts für Politische Freiheiten der Ungarischen Union für Bürgerliche Freiheiten. Sie fürchtet, dass Ausnahmezustände „in Zukunft zur neuen Normalität werden“. Dadurch würden nicht nur Grundrechte bedroht, sondern auch die Rolle des Parlaments weiter geschwächt.
Das ungarische Helsinki-Komitee, das als „ausländischer Agent“ diffamiert wird, weist darauf hin, dass die gesetzlich vorgeschriebene Volksbefragung für eine solche Verfassungsänderung nicht stattgefunden habe. Journalisten fürchten, dass der Gefahrenzustand die Pressefreiheit weiter untergräbt. Der vom Geheimdienst mit der Pegasus-Software abgehörte Investigativreporter Szabolcs Panyi tweetete, dass die Behörden unter Berufung auf den Ausnahmezustand auch Anfragen unter dem Informationsfreiheitsgesetz abblocken können.
Mit der Sonderabgabe für Banken, Versicherungsgesellschaften, Handelsketten, Energieunternehmen, Telekomfirmen und Fluggesellschaften (befristet bis 2023) will Orbán zwei neue Fonds speisen, die der Finanzierung der Landesverteidigung und der Subventionierung der Verbraucherenergiepreise dienen sollen. Die Auswirkungen des Kriegs würden es immer schwieriger machen, „die Familien zu schützen“, so Orbán in einer Videobotschaft. Er hat die Wahl Anfang April auch deshalb klar gewonnen, weil er Milliarden in Wahlgeschenke steckte und versprach, Ungarn aus dem Krieg herauszuhalten.
Leser*innenkommentare
Kappert Joachim
Ein schwarzes Schaf macht was es will.