Unbegleitete minderjährige Geflüchtete: „Wettlauf gegen die Zeit“
Wie ist es, 2025 als Kind oder Jugendlicher ohne Eltern nach Deutschland zu kommen? Die Willkommenskultur ist brüchig geworden, sagt Mohammed Jouni.

taz: Herr Jouni, Sie sind mit 13 Jahren aus dem Libanon nach Deutschland gekommen – mit Ihrem jüngeren Bruder, ohne Ihre Eltern. Können Sie sich noch an die ersten Tage in Deutschland erinnern?
Mohammed Jouni: Wir sind im Dezember 1998 angekommen. Es war sehr kalt und es lag so viel Schnee. Ein Mann, den meine Eltern kannten, brachte uns zum Jugendamt. Da gab es eine arabischsprachige Person, die uns befragt hat: Welche Sprachen wir sprechen und ob wir in unserem Land zur Schule gegangen sind.
taz: Und dann?
Jouni: Mein Bruder und ich wurden in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht. Mit uns schlief noch ein anderer Jugendlicher im Zimmer, der war älter als wir. Wir hatten sehr viel Angst, Sehnsucht nach unserer Familie und viele Fragen ohne Antworten: Kommen die? Was, wenn wir hier verloren gehen? Die Schule fanden wir merkwürdig: Aus dem Libanon waren wir gewohnt, in Uniform zum Unterricht zu gehen und sobald die Lehrerin reinkommt, sind wir aufgestanden. Hier hatten die Kinder dreckige Kleidung, die Schule sah aus wie sau, und die Schüler*innen schrien die Lehrkräfte an…
Mohammed Jouni
39, hat Soziale Arbeit studiert und die Organisation Jugendliche ohne Grenzen mitgegründet. Heute lehrt er an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und ist im Vorstand des Bundesfachverbands Minderjährigkeit und Flucht. Die Organisation setzt sich für geflüchtete Kinder und Jugendliche in Deutschland ein. Für sein Engagement hat er 2021 das Bundesverdienstkreuz bekommen.
taz: Heute sind Sie im Vorstand des Bundesfachverbands Minderjährigkeit und Flucht. Stand Juni leben rund 22.000 unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Deutschland und knapp 20.000 junge Volljährige. Was sind die Schritte, wenn ein Kind oder Jugendlicher nach Deutschland einreist?
Jouni: Wenn die jungen Menschen sich zum Beispiel bei der Polizei melden, werden sie in der Regel erstmal zum Jugendamt gebracht und kommen dann in einer Kinder- und Jugendeinrichtung unter. Danach beginnt das Clearingverfahren, in dem die Situation des Jugendlichen geklärt wird: Haben sie Verwandte in Deutschland? Waren sie im Heimatland in der Schule? Besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zu einem verbrecherischen Netzwerk? Auch die Altersfeststellung gehört dazu. In Zeiten mit hohen Einreisen ist das Problem, dass die Jugendlichen gerade in Großstädten oft Monate warten müssen, bis das Clearingverfahren überhaupt beginnt.
taz: Was passiert in dieser Zeit mit ihnen?
Jouni: Sie sind in Notunterkünften, die oft nicht den Standards der Jugendhilfe entsprechen. Zum Beispiel ist der Betreuungsschlüssel abgesenkt. In die Schule gehen können sie in dieser Zeit in der Regel auch noch nicht.
taz: Eigentlich gilt für unbegleitete Minderjährige das Primat der Jugendhilfe, das heißt: Die geflüchteten Kinder müssen genauso behandelt werden wie alle anderen Kinder, die in Obhut genommen werden. Halten sich die Behörden daran?
Jouni: 2015 haben sie das größtenteils getan. Aber der Zustand hielt nicht lange an. Nachdem 2015 viel Geld in die Qualifizierung von Fachkräften gesteckt und Jugendhilfeeinrichtungen ausgebaut wurden, wurden sie ziemlich schnell wieder geschlossen, als die Einreisen zurückgingen. Richtig wäre gewesen, Strukturen vorzuhalten für Zeiten, in denen die Zahlen wieder steigen. Stattdessen befinden wir uns jetzt in einer Situation, in der die Länder per Erlass immer wieder die Standards für unbegleitete Minderjährige absenken, statt die Angebote wieder hochzufahren.
taz: Und bei der Verteilung der Jugendlichen?
Jouni: In der Theorie gilt zwar noch immer, dass ihre Bedürfnisse mit berücksichtigt werden sollen – wenn sie zum Beispiel Verwandte in Deutschland haben, sollen sie in der Nähe leben dürfen, und nicht von anderen Jugendlichen getrennt werden, mit denen sie eine Fluchtgemeinschaft gebildet haben. Aber in der Praxis haben die Jugendlichen keine rechtliche Handhabe, wenn ihre Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt werden. Denn während das Clearingverfahren läuft, haben sie noch keinen gesetzlichen Vormund.
taz: A propos Altersfeststellung: Wenn die jungen Menschen keine Papiere haben, soll diese durch eine „qualifizierte Inaugenscheinnahme“ erfolgen. Wie funktioniert die?
Jouni: Zuerstmal: Es gibt wissenschaftlich keine Möglichkeit, das Alter von Menschen festzustellen. Man kann immer nur eine Altersspanne angeben. Das hindert die Jugendämter aber nicht daran, das Alter der Jugendlichen unbedingt feststellen zu wollen. In der Regel passiert das in Gesprächen. Falls dann noch Zweifel bestehen, kann es zu medizinischen Einschätzungen kommen. Dabei können Zähne und Hoden untersucht werden. Viele Jugendliche empfinden das als erniedrigend. Für viele ist es das erste Mal, dass sie sich vor einem Arzt nackt machen im Intimbereich, ohne dass sie irgendwelche Verletzungen haben.
taz: Und wenn dann festgestellt wird, dass sie volljährig sind?
Jouni: Dann werden sie wie Erwachsene behandelt und kommen in reguläre Gemeinschaftsunterkünfte. Dabei gehen bestimmte Angebote der Kinder- und Jugendhilfe nicht umsonst bis zum 25. Lebensjahr. Wenn junge Menschen mit 16, 17 nicht Kind sein konnten, weil sie auf der Flucht waren, und dann kommen sie mit 18 in Deutschland an, sollten sie hier durch die Jugendhilfe unterstützt werden. Aber wenn sie schon volljährig sind, ist es oft schwierig, an die ihnen zustehenden Hilfen zu kommen. Stattdessen werden sie unter Generalverdacht gestellt, ihr Alter falsch anzugeben. Das macht was mit ihrem Verhältnis zu diesem Land.
taz: Inwiefern?
Jouni: Du bekommst das Gefühl, dass dir eh nicht geglaubt wird, wenn dir schon am ersten Tag nicht geglaubt wurde. Das schafft Distanz zu den Menschen und seinen Institutionen – dem Jugendamt, der Polizei. So beginnt man, sich nicht willkommen zu fühlen. Und dann ist das Ganze auch noch ein Wettlauf gegen die Zeit. Du willst, dass alles ganz schnell geht, dein Asylverfahren abgeschlossen und positiv beschieden wird und du deine Familie nachholen kannst. Aber die Behörden arbeiten ganz, ganz langsam. Die Papiere aus dem Herkunftsland brauchen auch eine Ewigkeit.
taz: Was, wenn man 18 wird, bevor die Dokumente da sind?
Jouni: Der 18. Geburtstag ist für viele unbegleitete Minderjährige ein sehr dramatischer Tag, weil sie damit viele Rechte verlieren. Nur Kinder, denen Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention zugesprochen wird, können dann noch ihre Familie nachholen. Bei ihnen ist der Zeitpunkt des Asylantrags entscheidend für den Familiennachzug, nicht etwa das Einreisedatum der Eltern, wie es beim subsidiären Schutzstatus der Fall war.
taz: Jugendliche mit subsidiärem Schutz dürfen ihre Familien bis Juli 2027 ohnehin nicht mehr nachholen.
Jouni: Das ist eine Katastrophe für die jungen Menschen, und nicht vermittelbar. Die sagen: Hä? Ich geh genauso wie Fatma zur Schule, ich geh nicht über rot, ich bin voll nett, ich kiffe nicht, warum darf ich meine Familie nicht holen und sie schon? Meine Familie ist doch auch in Gefahr! Das kann man keinem Kind erklären, warum das richtig sein soll.
taz: Wie steht es also um die Willkommenskultur gegenüber unbegleiteten Minderjährigen im Jahr 2025?
Jouni: Die Willkommenskultur ist brüchig geworden. Viele Jugendliche erleben Ablehnung und Misstrauen. Aber dort, wo einzelne Lehrer*innen, Sozialarbeitende oder Nachbar*innen wirklich hinschauen und unterstützen, da spüren sie ein Willkommen. Von diesem Hinschauen bräuchte es mehr, nicht nur von Einzelnen, sondern auch von Institutionen.
taz: Was braucht ein Kind, um anzukommen – außer seiner Familie?
Jouni: Schnellen Zugang zu einem Schulplatz, einen bleibenden Wohnort, gute Gesundheitsversorgung für Körper und Psyche. Viele Jugendliche haben schon so viele Stationen hinter sich. Sie haben Visionen, und teilweise auch Aufträge von ihren Eltern: Sei erfolgreich, lerne und mach was aus dir, wir haben richtig viel Geld investiert in diese Flucht. Und dann sind sie hier, und es dauert. Keine Papiere. Alles super langsam. Dann stressen die Eltern: Warum bist du noch immer nicht in der Schule? Warum schaffst du das nicht? Deutschland vermarktet sich als Land, in dem alles pünktlich ist, effizient. Die Eltern glauben nicht, dass ihre Kinder nichts für ihre Situation können.
taz: Wie war das bei Ihnen?
Jouni: Meine Mutter kam einige Zeit später, die Situation im Libanon war damals wie heute unsicher und instabil. Mein Bruder und ich zogen zu ihr in eine Sammelunterkunft in Spandau. In der Unterkunft war es wahnsinnig dreckig, viele Menschen verzweifelt, die Polizei ging ein und aus. Danach wurden wir an den Gesundbrunnen verlegt, anschließend nach Pankow. Das heißt jedes Mal: Du bist im Stress von ankommen, nicht ankommen. Du lernst neue Freund*innen kennen, fängst gerade an, dich in deiner Klasse wohlzufühlen, vielleicht bist du das erste Mal verliebt – Zack, Abbruch, nächste Unterkunft, Neustart. Ist ja klar, dass das nicht gerade förderlich ist für einen jungen Menschen, der Zugehörigkeit braucht. Das geht unbegleiteten Minderjährigen heute nicht anders, wenn sie erstmal lange auf das Clearingverfahren warten und dann unter Umständen nochmal in ein neues Bundesland umziehen müssen.
taz: Gab es einen Moment, ab dem Sie sich willkommen gefühlt haben?
Jouni: Ja, aber das war erst viel später, ab 2015. Da habe ich plötzlich eine Freundlichkeit, Großzügigkeit erlebt wie nie zuvor. Klar, Paternalismus spielte da auch eine Rolle. Aber trotzdem war da für eine Weile eine spürbar willkommenheißende Stimmung. Es hat sich nach Flitterwochen mit Deutschland angefühlt.
taz: Und davor?
Jouni: In meine Schulzeit fiel der 11. September, eine sehr grausame Zeit für ein Kind mit dem Namen Mohammed. Am Tag nach dem Anschlag hat mich eine Lehrerin gefragt, ob ich dabei war, als irgendwo in Berlin scheinbar Baklava verteilt wurde. Ich kann mich sehr gut an Gefühle von Scham und Rechtfertigung erinnern. Und dann kamen Fragen: Ist in deinem Rucksack eine Bombe? Duscht deine Schwester mit Kopftuch? Situativ, bei einigen Menschen, habe ich mich willkommen gefühlt. Aber institutionell auf jeden Fall nicht. Ich durfte ja nicht mal mit auf Klassenfahrt, weil wir nur eine Duldung hatten und Berlin nicht verlassen durften. Das hat mit dem Gefühl von Willkommensein rein gar nichts zu tun.
taz: Wie lange dauert es heute, bis die jungen Menschen in die Schule kommen?
Jouni: Das kommt sehr aufs Bundesland an. Sechs Monate ohne Beschulung sind rechtlich das absolute Maximum. Und dann brauchst du Menschen, die an dich glauben, deine Potenziale erkennen und dich fördern. Ich habe – und so geht es auch heute vielen Jugendlichen – erstmal eine Hauptschulempfehlung bekommen. Ich kannte das deutsche Schulsystem ja gar nicht und dachte, dass Hauptschule sowas wie High School heißt. Dann gab es einen Lehrer, der mir gesagt hast: Du gehörst hier doch gar nicht hin! Er hat mich an die Hand genommen, ist mit mir zur Realschule im gegenüberliegenden Gebäude gelaufen und hat mich dort angemeldet. Später habe ich dann Abitur gemacht.
taz: Sie haben in Ihrem letzten Schuljahr mit anderen jungen Menschen die Organisation Jugendliche ohne Grenzen gegründet. Die gibt es bis heute, und bis heute treffen sich dort junge geflüchtete Menschen. Was macht dieser Diskurs, den wir gerade erleben, mit ihnen?
Jouni: Es gibt sehr viel Angst. Nach der letzten Bundestagswahl haben wir erstmal Zoomkonferenzen organisiert, weil die Jugendlichen viele Fragen hatten: Werden wir jetzt abgeschoben? Wird die CDU mit der AfD zusammenarbeiten? Jugendliche aus Sachsen haben erzählt: Nachts fahren sie nicht mehr Regionalbahn. Sie suchen sich lieber eine Ausbildung in der Nähe, auch wenn sie eigentlich lieber die andere machen würden. Die Angst vor Angriffen durch Rechtsextreme ist groß.
taz: Was beschäftigt die Jugendlichen noch?
Jouni: Die Sorge vor Abschiebungen ist schon sehr viel Thema. Allein, dass du weißt: In zwei Monaten muss ich wieder zur Ausländerbehörde, um meine Duldung zu verlängern, vielleicht werde ich dann festgenommen. Aber die Jugendlichen geben sich gegenseitig Kraft und sind füreinander da.
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