Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: „Wir haben viel Erfahrung entwickelt“
Eine obligatorische Altersfeststellung bei minderjährigen Migrant*innen? Der Leiter des Trierer Jugendamts hält davon nichts.
Die Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ist gesetzlich geregelt. Dafür sind die jeweiligen Jugendämter zuständig. Sie führen die ersten Gespräche und erstellen den „Jugendhilfeplan“, entscheiden über die Unterbringung. Dabei ist die Feststellung des tatsächlichen Alters zwingend vorgeschrieben.
Sind die Flüchtlinge jünger als 18 Jahre, übernimmt das Jugendamt für sie die Verantwortung, „Inobhutnahme“ heißt das auf bürokratisch. Die Hilfsangebote sind dann naturgemäß aufwendiger als bei Volljährigen, der Aufenthaltsstatus schützt Jugendliche besser vor Abschiebung.
„Natürlich wissen wir, dass junge Flüchtlinge sich deshalb als jünger ausgeben, doch damit können wir umgehen“, versichert Lang. Er ist Leiter eines Schwerpunktjugendamts. Seit 2015 werden unbegleitete Minderjährige nach einem Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. In Rheinland-Pfalz dürfen Kreise und kreisfreie Städte seitdem die komplexe Aufgabe der Aufnahme unbegleiteter Kinder und Jugendlicher an zentrale Stellen mit entsprechender Expertise übertragen. Deshalb ist das Trierer Jugendamt für die Stadt Trier und sechs weitere Landkreise zuständig.
Qualifizierte Inaugenscheinnahme
„Wir haben so viel Erfahrung entwickelt, dass wir bei der Altersbestimmung grundsätzlich auf ärztliche Alterstests verzichten können“, sagt Lang selbstbewusst. „Unsere Fachleute fragen die Jugendlichen zum Beispiel nach den Stationen ihrer Flucht und nach der Schulbiografie. Die wissen, wie etwa das Schulsystem in Afghanistan aufgebaut ist, und überprüfen die Plausibilität der Angaben.“ Bei der „qualifizierten Inaugenscheinnahme“, so heißt das im Gesetz, machten sich die Fachkräfte ein Bild. Selbst Passunterlagen seien dabei durchaus nicht immer eine verlässliche Datengrundlage, so Lang.
Im Jahr 2017 habe das Trierer Jugendamt 109 Altersbestimmungen vorgenommen. „In 26 Fällen, das sind 24 Prozent, haben wir ein älteres Lebensalter festgesetzt“, berichtet Lang. „Bislang haben uns die Flüchtlingsorganisationen kritisiert, wir machten die Asylbewerber älter, um Leistungen einzusparen; jetzt heißt es, uns gingen zu viele durchs Netz. Beides ist falsch“, so Lang.
„Wollen Sie einem traumatisierten Flüchtling erst einmal mit Misstrauen begegnen und ihn in eine ärztliche Untersuchung zwingen?“, fragt der Amtschef. Man müsse sich die Traumata eines jugendlichen Flüchtlings wie einen vollgestopften Schrank vorstellen, so habe ihm das ein Therapeut erklärt: „Wenn Sie ihn dazu bringen wollen, den Schrank zu öffnen, müssen Sie aufpassen, dass der junge Mensch nicht von den Inhalten erschlagen wird. Er braucht eine Vertrauensbasis, um sich zu öffnen und die Erfahrungen zu verarbeiten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Klimaschützer zu Wahlprogrammen
CDU/CSU und SPD fallen durch, Grüne punkten nur wenig