Unabhängigkeitstag in der Ukraine: Nah sind die Toten
Feiertag heißt in Kyjiw auch: Gedenktag. Gefallene Soldaten und geflüchtete Kinder stehen im Mittelpunkt der Feierlichkeiten am 24. August.
Viele tragen die Wyschiwanka, das bestickte Hemd, das als Nationaltracht der Ukrainer gilt. Andere haben eine ukrainische Fahne über die Schulter geschwungen. Die Stimmung ist meist feierlich und beschwingt. Nur an einem Ort ist sie nachdenklich: tausende kleiner Fähnchen auf dem zentralen Platz Maidan erinnern an die vielen Toten, die dieser Krieg gekostet hat. Meistens sind sie blau-gelb – die ukrainischen Nationalfarben. Aber auch australische, türkische, georgische, aserbaidschanische Fähnchen finden sich hier.
Viele gehen schweigend zu den Fähnchen und halten inne. Eine Frau bleibt sehr lange vor einem Fähnchen stehen – wohl im Gedenken an einen Angehörigen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend sind ständig weit über hundert Menschen auf dem Platz mit dem Fähnchenmeer.
Doch nicht alle sind gekommen, um zu trauern. Sieben Frauen stehen auf den Stufen des Maidan und halten Plakate vor ihren Körper. Sie alle haben Ehemänner, die an der Front kämpfen. Und sie alle wollen nur eins: dass ihre Männer endlich nach Hause kommen. „Wir wollen, dass Soldaten an der Front eine klar zeitlich befristete Dienstzeit haben. Seit März 2022, ist mein Mann an der Front und ich weiß nicht, wann er nach Hause kommen wird“, sagt die Sprecherin der Gruppe, Halyna Ostrovska.
Auch an 14 weiteren Orten der Ukraine wird an diesem Tag mit Mahnwachen für eine Befristung von Fronteinsätzen demonstriert. Nur wenige Schritte von den Frauen entfernt protestiert eine einzelne Aktivistin gegen Korruption – und wirft dabei ausgerechnet Präsident Wolodymyr Selenskyj Korrumpierbarkeit vor.
Russland greift weiter an
Während es am Unabhängigkeitstag in Kyjiw ruhig bleibt – nur einmal wird für mehrere Minuten Luftalarm ausgerufen – schlägt die russische Armee im Osten des Landes wieder einmal brutal zu. 306 Angriffe von Panzern, Artillerie, Drohnen und Raketen hat das ukrainische Innenministerium in den vergangenen Tagen in neun Ortschaften der Bezirke Pologow und Wassiljewski im Osten des Landes gezählt.
Gut besucht ist am Nachmittag das Gelände des Expozentrums VDNG am Stadtrand. Auf dem 287 Hektar großen Areal befinden sich zahlreiche Ausstellungs- und Veranstaltungsstätten im Stil des sowjetischen Neobarock. Es wurde in den 1950-Jahren errichtet, um die Errungenschaften des sozialistischen Wiederaufbaus zu zeigen. Heute ist es eine Mischung aus Ausstellungsgelände, Park und Rummel. Ein Klettergerüst und eine Eisdiele ziehen besonders Familien an. Der Eintritt ist frei.
Auf dem Platz vor dem zentralen Ausstellungspavillon bleiben viele Besucher erst einmal stehen. Aktivisten sind gerade dabei, auf dem Asphalt 325 Abzüge von Fotos geflüchteter Kinder auszulegen. Jeweils 135 mal 90 Zentimeter groß schauen einen die Kinderporträts der ukrainischen Fotografen Marina Karpiy and Sasha Mazur in Schwarzweiß an.
Der Klebstoff will auf dem sonnenheißen Asphalt nicht richtig halten und der Wind pustet die Abzüge immer wieder durcheinander. Mitorganisator Amiko Paraskevashvili hat buchstäblich alle Hände voll zu tun, damit die Bilder dort bleiben, wo sie sein sollen.
Jeder kennt jemanden, der verletzt oder getötet wurde
„Children of War“ heißt das Fotoprojekt, das aus Anlass des Unabhängigkeitstags in Kyjiw gezeigt wird, erzählt Paraskevashvili. Es soll auch bald in Warschau, Wien und Berlin zu sehen sein. „Wir haben die Kinder in Georgien und Kyjiw fotografiert. Sie kommen aus Gebieten, die von Russland besetzt sind. Sie alle haben ihre Heimat verloren und viele von ihnen haben Schlimmes erlebt.“ Russlands Krieg und seine Opfer sollen nicht vergessen werden. Das sei das Ziel des Projekts.
Auch Lesya bleibt auf dem Rückweg vom Spielplatz kurz stehen und wirft einen Blick auf die Fotos. An der Hand hält sie ihren fünfjährigen Sohn. Sie sei sehr froh, dass sie mit ihm nicht habe fliehen müssen, daran denke sie heute. „Aber das hat seinen Preis“, sagt die 35-Jährige. Ihr Mann sei in der Armee. „Jeder hier kennt jemanden, der verletzt oder getötet wurde.“
Taxifahrer Igor schmunzelt, als er nach dem Feiertag gefragt wird. „Ich muss trotzdem arbeiten.“ Wichtiger als den Unabhängigkeitstag zu feiern sei ihm, die Unabhängigkeit zu behalten. Natürlich verfolge er die Nachrichten über die Offensive der ukrainischen Armee in der russischen Region Kursk. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“ Russland habe Kyjiw in drei Tagen einnehmen wollen, nun sei die ukrainische Armee schon drei Wochen in Kursk und die Russen finden kein Mittel dagegen. „Das ist gut“, findet Igor. „Aber im Donbas verlieren wir Dorf um Dorf.“
Russland Offensive im Donbas läuft schon ein Dreivierteljahr auf breiter Front. In den vergangenen Wochen hat sich das Tempo im Abschnitt des strategisch wichtigen Verkehrsknotens Pokrowsk erhöht, an anderen Abschnitten gibt es kaum Bewegung.
Die Stimmung ist ambivalent
Die Stimmung in Kyjiw ist entsprechend ambivalent: besser als im Frühjahr, als es ständig Blackouts gab und es der Armee an Munition mangelte, aber auch lange nicht so zuversichtlich wie nach der erfolgreichen Offensive bei Charkiw vor zwei Jahren. Anders als im Vorjahr werden auf der Prachtstraße Khreschtschatyk zu diesem Unabhängigkeitstag auch keine zerstörten russischen Panzer ausgestellt.
Der nächste Winter macht Igor bereits Sorgen. Seine Wohnung befindet sich im oberen Stockwerk eines Hochhauses, erzählt er: „Wenn es keinen Strom gibt, gibt es keine Heizung und der Aufzug funktioniert nicht.“
Fürs erste sieht es gut aus. Der Netzbetreiber Ukrenergo hat vor dem Unabhängigkeitstag mitgeteilt, dass es in den nächsten Tagen keine Stromsperren geben werde. In einem Atomkraftwerk ist die Wartung eines Reaktorblocks beendet worden. Damit stehen 1000 Megawatt mehr zur Verfügung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs