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Umstrittener Theaterintendant… und alle Fragen offen

Das Ensemble-Netzwerk will wissen, warum ausgerechnet Lars Tietje Intendant des Theaters Bremerhaven wird. Der Kulturdezernent nennt das Rufmord.

Ist in Schwerin mehrfach und auch öffentlich kritisiert worden: Intendant Lars Tietje Foto: Jens Büttner/dpa

Bremen taz | Schlechte Bezahlung, unsichere Arbeitsverträge, Konkurrenzdruck, Unvereinbarkeit von Beruf und Familie: So sieht die Realität für die allermeisten SchauspielerInnen und Bühnenbeschäftigten aus. Vor über fünf Jahren hat sich das bundesweite „Ensemble-Netzwerk“ gegründet, um sich für fairere Arbeitsbedingungen an Theatern stark zu machen und verkrustete Strukturen, die oft Ursache der Missstände sind, zu hinterfragen. In Bremerhaven scheint das freilich unerwünscht zu sein.

Nicht zu Unrecht hatte das Netzwerk, bestehend aus über 800 SchauspielerInnen, DramaturgInnen und RegisseurInnen, die an deutschsprachigen Stadt-, Staats- und Landestheatern tätig sind, sowohl öffentlich als auch bei Bremerhavens Oberbürgermeister Melf Grantz (SPD) und seinem Kulturdezernenten Michael Frost danach gefragt, warum ausgerechnet Lars Tietje ab 2021 neuer Intendant am Stadttheater Bremerhaven wird. Denn Tietje hinterlässt als Generalintendant des fünfspartigen Staatstheaters in Schwerin eine ganze Menge verbrannte Erde.

Mehrmals wurde dort sein Rücktritt gefordert, bis er vor einem Jahr erklärte, seinen laufenden Vertrag nicht verlängern zu wollen. Man warf ihm einen autoritären Führungsstil vor und das Fehlen künstlerischer Ambitionen – TheatermitarbeiterInnen hatten sich auch öffentlich gegen den Intendanten ausgesprochen. In mehreren Schreiben hatten Mitglieder verschiedener Sparten Vorwürfe gegen Tietje, der auch Geschäftsführer ist, erhoben: Kritik gab es an der Spielplangestaltung, an Personalentscheidungen und fehlender Kommunikation.

Zuletzt war Tietje im Juni unangenehm aufgefallen, weil er auf seiner Facebook-Seite allerlei Verschwörungstheorien über Corona verbreitet haben soll. Laut Schweriner Volkszeitung verlinkte er mit dem Hinweis „Mal etwas zur Beruhigung. Sehr interessant“ ein Interview namens „Eine Grippe mit schönem Namen“ mit Andres Bircher, einem Schweizer Arzt, der zur Behandlung des Coronavirus heiße Bäder empfiehlt. Über die Coronabeschränkungen schrieb Tietje: „Vielleicht ist das alles nur ein großer Feldversuch, in dem getestet werden soll, wie viele Einschränkungen sich die Menschen gefallen lassen, wenn man ihnen nur genug Angst macht.“

Unterdessen in Schwerin

Lars Tietjes Abgang reißt in Schwerin keine Lücke: Hans Georg Wegener wurde Ende Juni als sein Nachfolger vorgestellt.

In Bremen war Wegener, aktuell Chef des Weimarer Nationaltheaters, Teil der Team-Intendanz, die nach dem Abgang von Generalschaumschläger Hans Joachim Frey das Haus künstlerisch neu aufgestellt und den Ensemblegeist wieder belebt hat.

Das Ensemble-Netzwerk wollte von Michael Frost und Melf Grantz aber bereits vorher wissen, welche Kriterien Grundlage für die Auswahl der neuen Intendanz war, ob es auch qualifizierte Frauen in der Endauswahl gab und wenn ja, warum diese nicht zum Zuge gekommen sind.

Es wollte wissen, ob es in Bremerhaven Überlegungen gab, „die Überforderung einer Einzel-Person an der Spitze des Theaters zukünftig durch eine Doppelspitze, ein Direktorium oder eine Team-Leitung strukturell zu unterbinden“, wie die Kriterien Personalführung und Personalmanagament bei der Auswahl von Lars Tietje gewichtet worden sind, und ob bei der Entscheidung über den neuen Intendanten die MitarbeiterInnen-Vertretung des Stadttheaters konsultiert worden ist.

Und es wollte wissen, wie Frost und Grantz die „massiven Schwierigkeiten, die der Leitungsstil von Lars Tietje in Schwerin hervorgerufen hat“ bewerten.

Eine Antwort auf diese Fragen steht bis heute aus. Stattdessen bezeichnete Michael Frost das Schreiben gegenüber dem zur Nordsee-Zeitung gehörenden Digital-Magazin „norderlesen.de“ als „öffentliche Hinrichtung“ Tietjes. Dabei hatte Frost Mitte Mai gegenüber der taz noch gesagt, dass Bremerhavens Entscheidung für Tietje sicher auf Kritik stoßen würde. „Dass er zu uns kommt, klingt für einige nicht glorreich“, sagte er. Tietje sei nach den Erfahrungen in Schwerin aber hart mit sich ins Gericht gegangen und habe offensiv an sich gearbeitet und sich beraten lassen.

Keine drei Wochen später folgte Frosts große Empörung über das Ensemble-Netzwerk – ganz so, als wäre niemals öffentlich über die Kritik an dem Schweriner Intendanten geredet und berichtet worden. „Ich bin selten so entsetzt gewesen“, sagte Frost über den Brief des Netzwerks. Er werde ihn nicht beantworten, auch wenn er keine Probleme damit habe, „Rechenschaft darüber abzulegen, warum wir – unter Mitwirkung der Bremerhavener Theatergremien – Herrn Tietje gewählt haben“. Es gebe gute Gründe dafür, „die ich bei Anfrage im geschützten Raum gern erklärt hätte“.

Das Ensemble-Netzwerk hat darauf reagiert: mit einem weiteren offenen Brief. Darin äußert es den Wunsch nach einem persönlichen Dialog mit allen Beteiligten und bittet erneut um die ausstehende Stellungnahme zur Personalie Tietje. Weiter heißt es: „Wir sind es nicht gewohnt, dass auf einen offenen Brief unsererseits mit so viel Zorn reagiert wird. Wir halten diese Form für ein durchaus gängiges und gewohntes Mittel. Die Schritte, die wir gehen, sollen für unsere Mitglieder transparent und nachvollziehbar sein.“

Antworten wird es aber auch diesmal nicht geben, geschweige denn eine Entschuldigung für Frosts harte Worte: Auf Anfrage der taz teilt Magistratssprecher Volker Heigenmooser vielmehr mit, „dass der Brief des Ensemble-Netzwerks aus unserer Sicht eine Form des öffentlichen Rufmords darstellt, die man kaum anders als widerwärtig bezeichnen kann. Diese Art der öffentlichen Vorverurteilung und Herabsetzung von Herrn Tietje mit Antworten zu würdigen, verbietet sich deshalb.“

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