Umstrittener Roman über Hamburg-Volksdorf: Hübsche Fassade, böse Fiktion
Der Roman "Last Exit Volksdorf" von Tina Uebel lässt die heile Welt Hamburger Vororte kollabieren. Nun hat der Verlag das Buch vom Markt genommen - wegen verletzter Persönlichkeitsrechte.

HAMBURG taz | "Es ist eine Geschichte nach dem Leben und die Heldin lebt noch": So schrieb es Theodor Fontane 1895 über Effi Briest. Noch deutlicher wurde der Autor Bernward Vesper, als er seiner "Reise" voranstellte, dass alle Ähnlichkeiten zwischen seinem Buch und dem realen Leben das beabsichtigte Ergebnis eines langwierigen Arbeitsprozesses seien.
Ihrem Roman "Last Exit Volksdorf" hat die Hamburgerin Tina Uebel vor kurzem vergleichsweise wenig gewichtige Worte vorangestellt: "Alles erfunden. Fiktive Personen an einem irrealen Ort, Volksdorf genannt, warum nicht."
Vom Markt genommen wurde das Buch dennoch - weil eine reale Person meinte, sich in "Last Exit Volksdorf" wiedererkennen zu können und deshalb gegen Persönlichkeitsverletzung zu klagen drohte.
Lapidar erklärte daraufhin der Verlag, C. H. Beck in München, per Pressemitteilung: "Wir haben uns am 9. Februar 2011 bereit erklärt, diese Ausgabe nicht weiter zu vertreiben und anzuzeigen.
Der Verlag hat die im Handel vorrätigen Exemplare heute zurückgerufen." Nun will man schauen, ob sich das Buch in einer anderen, geweißten Version verlegen lässt.
Dem Hamburger Abendblatt sagte Tina Uebel, sie habe niemanden verletzen wollen und nur mit Versatzstücken einer in Volksdorf nicht unbekannten Geschichte gearbeitet. Weiter äußern möchte sie sich zurzeit nicht zu der Angelegenheit.
"Last Exit Volksdorf" ist ein bitter-böses, aber auch lustiges Buch. Ein Buch, das manche als Abrechnung lesen mit dem gleichnamigen Vorort im Nordosten Hamburgs.
Jenem Vorort, der für viele als Inbegriff der Idylle gilt: Wald und Wiesen, hübsche Villen in ausgedehnten Gärten, Bilderbuchfamilien.
Tina Uebel, die selbst in Volksdorf aufgewachsen ist und heute an der Reeperbahn lebt, macht nun in ihrem Roman, was in der Kunst eine lange Tradition hat: aus dem scheinbaren Idyll einen veritablen Albtraum.
Als Leitmotiv dient ihr Goyas Radierung "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Das passt auf so ein hübsches Schlafstädtchen eben wie die Faust aufs Auge. Auf all jene Eltern, die für ihre Kinder immer nur das Beste wünschen - Erfolg vor allem - und dabei kleine Monstren züchten.
Die Bilanz am Ende: eine minderjährige Drogentote; ein minderjähriger Schwuler, der versucht, sich mit Aids zu infizieren; eine minderjährige Schülerin, die von Klassenkameraden mit einem Hammer vergewaltigt wird; eine Wundergeigerin, die eines Nachts nackt vor Karstadt spielt und schließlich in der Klapsmühle landet.
Unter den Erwachsenen sieht es am Ende nicht besser aus: Der eine ist pädophil, der Rest geht fremd, eine Hausfrau knüpft sich am Geländer des Treppenhauses auf. Was alle vereint, ist bestenfalls das Elend der Vereinsamung.
Schon diese Aufzählung sollte reichen, um die gewollte Einseitigkeit des Buches zu begreifen. "Last Exit Volksdorf" überzieht und übertreibt. Es steckt voller Kunst und Künstlichkeit, voll starkem Tobak und schwarzem Humor.
Das unterscheidet "Last Exit Volksdorf" auch von Maxim Billers Roman "Esra", der 2003 unter einigem medialen Getöse indiziert wurde: Darin hatte Biller seine Beziehung mit einer türkischen Schauspielerin geschildert, realistisch, detailliert und aus der Ich-Perspektive.
In Billers Fall ist es für den Leser in der Tat nicht ganz einfach, die Fiktionalität des Textes zu erfassen. Bei Tina Uebel dürfte es hingegen klar sein: Hier schreibt keine Autorin Volksdorfer Geschichte, sondern treibt auf die Spitze, was immer ihr unter die Finger kommt.
Jede Figur ist eine Überzeichnung. Bis zu den Grenzen der Persiflage. Kunst, für jeden klar ersichtlich, so sollte man meinen.
Ist es aber offenbar doch nicht: Die angebliche Persönlichkeitsverletzung ist da nur das eine. Das andere ist der Bierernst des Hamburger Abendblatts, das am Dienstag in einer länglichen Lokalreportage Volksdorfs hübsche Fassade wieder aufzurichten suchte.
Das Stück schwelgt geradezu in seiner Begeisterung über die Volksdorfer, über ihren Gemeinsinn, ihr Zusammenspiel, ihre Fairness, ihre Weltoffenheit, ihre Ehrlichkeit, ihre Bodenständigkeit - und erreicht damit genau das Gegenteil dessen, was es wollte: Es macht die Berechtigung von Tina Uebels Kunst handgreiflich.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?