Umsiedlung für Braunkohle: Die rheinische Geisterburg
Zehntausende werden in den nächsten dreißig Jahren dem Tagebau in NRW weichen müssen. Einer von ihnen ist Wilfried Lörkens.
Er erzählt vom rheinischen Geschlecht Palant, das der Burg den ursprünglichen Namen gab. Und dass der einstige Adelssitz 1837 an die bürgerliche Familie Lörkens verkauft wurde. Ein monotones Surren begleitet seine Reise in die Vergangenheit. Es ist das Geräusch eines Braunkohlebaggers.
Doch Lörkens ignoriert den schwarzen Koloss aus Stahl, fährt unbeirrt fort. „Ich bin hier geboren. Hier in diesem Haus, das schon so lange im Besitz unserer Familie ist“, sagt er und erinnert sich dann selbst daran, dass er Haus und Gelände im vergangenen Jahr an den Energiekonzern RWE verkauft hat. „War“, korrigiert er. Doch darüber möchte der Mann mit den grauen Haaren und dem ordentlich gekämmten Scheitel gerade nicht sprechen.
Lieber erinnert sich Lörkens zurück an die Zeit, in der Haus Paland noch der inoffizielle Mittelpunkt Borschemichs war, eines ländlichen Ortsteils der Stadt Erkelenz. Auf der großen Wiese feierte er mit seinem Verein jedes Jahr das Schützenfest.
Gemeinsame Umsiedlung
Auf dem Wassergraben lief er mit seinen Freunden im Winter Schlittschuh. „Nach der Schule. Die war ja direkt gegenüber“, sagt Lörkens und deutet mit dem Kopf zu dem verfallenen Gebäude auf der anderen Straßenseite. Die Sonne scheint in sein rundes Gesicht, der Wind weht eine Strähne zur anderen Seite des Scheitels. Lörkens streicht sie nicht zurück, ihm stehen die Tränen in den Augen.
Im Juni muss der Burgherr sein Haus Paland verlassen. Die „gemeinsame Umsiedlung“ Borschemichs wird abgeschlossen sein, die „bergbauliche Inanspruchnahme“ beginnen. So heißt das Schicksal von Wilfried Lörkens in Amtssprache.
Fackelketten und Proteste
Mit dem Vokabular ist der ehemalige Bankangestellte seit Jahren vertraut. Nicht nur als Betroffener, auch als Mitglied im Bürgerbeirat und Vorsitzender des CDU-Ortsverbandes. Seine Partei war gegen den Tagebau, den die damals in Düsseldorf regierende rot-grüne Koalition auf den Weg brachte. Ja, groß sei der Protest gewesen, erinnert sich Lörkens. „Aber das ist lange her“, sagt er. Habe ja alles nichts gebracht. Von Fackelketten und Protesten unbeeindruckt wurde Garzweiler II 1995 abgesegnet.
Noch die nächsten dreißig Jahre darf der Energieriese RWE hier Kohle scheffeln. Die ockerfarbenen Gruben haben sich bereits bis an den Rand Borschemichs gefressen. Gut 600 Menschen lebten hier einmal. Die ersten sind 2006 weggezogen, 2012 wurden die ersten Gebäude abgerissen. Geblieben sind außer Wilfried Lörkens noch eine Handvoll Bewohner und riesige Flächen, auf denen die Abrissbagger nichts als tiefe Furchen hinterlassen haben.
Borschemichs Hauptstraße ist noch gesäumt von alten Backsteinhäuschen. Ihre Fenster sind mit dunklen Spanplatten verrammelt oder eingeschlagen, Türen aufgebrochenen. Der Wind pfeift durch zerbrochene Scheiben und die Äste der alten Linde gegenüber. Sie war einmal das Wahrzeichen des 1.100 Jahre alten Ortes. Heute ist sie der Mittelpunkt eines Geisterdorfs. „Seit Jahren treibt sich hier eine Menge Gesindel rum“, sagt Lörkens. „Beim Nachbarn waren sie fünf Mal drin, haben alles auf links gedreht.“ Einbrüche, Plünderungen und Altmetalldiebstähle.
Mit Werkzeug und Herzblut
„Das zu erhalten, war meine Lebensaufgabe“, sagt er beim Blick auf sein Haus. Dreißig Jahre Renovierungsarbeit und viel Herzblut stecken darin: Lockere Steine habe er befestigt, Risse im Mauerwerk beseitigt, das Dach neu eingedeckt. „Alles selbst gemacht, mit meinen Schützen“, erzählt er. „Damals half jeder jedem. Kannste ma anpacken? Oder willste lieber ’n Bier trinken?“ Lörkens lächelt bei dem Gedanken an die Vergangenheit.
Am Ende der Auffahrt steht sein Auto, bis unters Dach mit Werkzeug beladen. „Mein Baustellenfahrzeug. Ist ja ein ganz schönes Hin und Her“, sagt Lörkens. Denn „Borschemich (neu)“, wie der Ort offiziell heißt, in den Wilfried Lörkens mit seiner Lebensgefährtin ziehen wird, ist zehn Kilometer entfernt. Den Standort, im Norden von Erkelenz gelegen, haben die Umsiedler vor gut 15 Jahren selbst ausgewählt, darüber abgestimmt. Auch in den Entwürfen für die neue Siedlung wurden die Wünsche der Alt-Borschemicher berücksichtigt.
Das Ergebnis ist noch immer nicht fertig. In der Mitte des am Reißbrett geplanten Ortes steht eine neue Linde. Klein und mickrig streckt das Bäumchen die Äste in die Höhe. Die Hauptstraße ist gesäumt von geklinkerten Mehrfamilienhäusern. „Eigentlich sollten hier keine Zweigeschosser stehen“, sagt Lörkens. Aber irgendwelche Investoren hätten es dann wohl doch geschafft. Dann schweigt er.
Ja, doch angefreundet habe er sich schon mit dem Gedanken an das neue Leben. Sei ihm ja nichts anderes übrig geblieben. Er habe zwar woanders nach einem Ersatz für seine Burg gesucht, aber nichts gefunden. Also musste er sich mit dem neuen Borschemich arrangieren. „Hier kennste wenigstens die Leute, weißt wie jeder so tickt“, sagt er. Und die Nachbarn können mal mit anpacken? „Ach“, sagt Lörkens und winkt ab. Das laufe nicht mehr wie früher. „Wenn wir alle fertig sind, vielleicht“, sagt er. Aber jetzt habe erst mal jeder mit sich zu tun. Auch Lörkens.
Glücklich macht ihn der Anblick seines Neubaus nicht. „Wer früher weggeht, sitzt jahrelang in dieser Großbaustelle. Ist der eine Nachbar mit Kloppen fertig, fängt der nächste mit der Kreissäge an“, erklärt Lörkens. „Hier haste Dreck und Lärm, da lebste in ’nem Geisterdorf“, sagt er und lässt die Schultern hängen. Es klingt wie die Antwort auf eine Frage, die ihm schon oft gestellt wurde: Warum hat er nicht früher angefangen? Es ist nur ein Problem von vielen, die Garzweiler II mit sich bringt.
Die fehlende Absicherung
Erkelenz liegt am Rande des Tagebaus und wird insgesamt ein Drittel seines Stadtgebiets verlieren. Mit dem Kugelschreiber demonstriert Bürgermeister Peter Jansen den Verlust auf einer großen Karte, die an der sonst kahlen Wand in seinem Büro hängt. „So eine Umsiedlung ist für uns als Verwaltung ein sehr komplexer Prozess“, beginnt der CDU-Politiker seinen Vortrag, wie er ihn wohl seit Jahren hält.
„Die Debatte über die Energiewende hat’s nicht einfacher gemacht“, fährt Jansen fort. Doch nicht, ohne zu betonen: „Erkelenz war immer gegen den Tagebau. Wir halten ihn nicht für sozialverträglich und auch energiepolitisch für unsinnig.“
Doch ein vorzeitiges Ende wäre, mitten in der Umsiedlung, eine ebenso große Katastrophe wie der Tagebau selbst. Das sei deutlich geworden, als Gerüchte aufkamen, dass RWE pleite sein soll. „Da stellte sich heraus: Hoppla, das Kohleland NRW hat ja gar nicht abgesichert, was passiert, wenn das wandernde Megaloch plötzlich stoppt“, sagt Jansen. „Die schlimmste Situation wäre eine halbe Neubausiedlung auf der einen, ein halb leerstehendes Dorf auf der anderen Seite und keiner fühlt sich zuständig.“
Derzeit werden fünf weitere Orte für die Umsiedlung vorbereitet. Nach der Standortsuche, Planung des neuen Ortes und einem jahrelangen juristischen Vorlauf bekämen die Betroffenen Umsiedlerstatus, hätten dann zehn Jahre Zeit, umzusiedeln. Dass das einfacher klingt, als es ist, weiß Jansen. „Die Menschen müssen solche Berge Papier lesen“, sagt er und hebt die Hand ein Stück über seinen Schreibtisch. „Oder sie müssen sich drauf verlassen, dass sie bei der Entschädigung von RWE nicht über den Tisch gezogen werden.“
Diese Angst sei verbreitet, aber unbegründet, sagt er. „Viele denken zwar, sie könnten frei verhandeln, doch dem ist nicht so.“ Schließlich gebe es rechtliche Vorgaben für Verkehrswertgutachten und Transparenzerklärungen für Entschädigungen. Damit ließen sich 80 Prozent aller Häuser relativ sicher abwickeln. Doch der Bürgermeister muss gestehen: „Na ja, eine Burg zu bewerten, das ist natürlich in diesem Schema nicht drin.“
Nur Quadratmeter zählen
Wilfried Lörkens gehört zu den 20 Prozent. Im kleinen Erkerzimmer von Haus Paland sitzt er an jenem großen Holztisch, an dem er sich in den letzten Jahren so oft den Kopf zerbrochen hat. Er streicht die weiße Tischdecke glatt und erklärt: „Das Haus ist zwar groß, hat aber wenig Wohnfläche. Doch nur die zählt. Die dicken Mauern, das Gewölbe, alles, was das historische Gebäude ausmacht, kannste vergessen. Für die zählen nur Quadratmeter.“
Die – das ist RWE. Die drei Buchstaben bringt Wilfried Lörkens kein einziges Mal über die Lippen. Genau wie die Summe seiner Entschädigungszahlung. „Ich habe schwer nachgeben müssen“, sagt er nur.
Eine Wahl, meint Lörkens schließlich, habe er am Ende ja ohnehin nicht gehabt. „Wer nicht verkauft, wird enteignet, ganz einfach“, sagt er. Aufgrund des geltenden Bergrechts mit seiner Enteignungsregelung von 1937 haben die Betroffenen juristisch kaum eine Chance, sich gegen ihre Umsiedlung zu wehren. Mehrfach hätten „die“ ihn freundlich darauf hingewiesen. Und auch der Denkmalschutz kommt gegen das Bergrecht nicht an.
Die Strapazen haben dem Mann sichtlich zugesetzt. Darüber können auch das faltenfreie Hemd und der ordentliche Scheitel nicht hinwegtäuschen. „Als klar war, dass wir unser Zuhause verlieren, wurde ich krank. Seit November bin ich Rentner“, erzählt Lörkens. Dann faltet er seine kräftigen Hände und schaut aus dem Erkerfenster, lässt den Blick über seine grüne Oase schweifen und trifft am Horizont auf den schwarzen Koloss aus Stahl. „Tja, von hier sieht er aus wie ’n Aussichtsturm, is’ aber ’n Bagger“, sagt er. Und zieht die Mundwinkel nach oben. Ein Lächeln ist es nicht.
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