Umsetzung der Impfpflicht: Nicht zu Ende gedacht
Erst jetzt dämmert vielen Befürworter*innen der Impflicht, dass es keine gute Idee ist, die Kindergärten zur Kontrollinstanz zu machen.
W er die Berichterstattung über die Masern-Impfpflicht verfolgt hat, kann nur staunen. Selbst Kolleg*innen in Medien, die gegenüber Gesundheitsminister Jens Zack-Zack-Zack Spahn (CDU) eine natürliche Grundskepsis an den Tag legen, haben die Impfpflicht begrüßt wie die Aussicht auf vierwöchigen bezahlten Sonderurlaub.
Denn die Impfpflicht, so die schlichte wie schlecht belegbare These, würde ein für alle Mal mit Masern-Ausbrüchen in Deutschland aufräumen. Und wir könnten wieder guten Gewissens in Länder fliegen, in denen nicht 93 Prozent der Schulanfänger*innen einen vollständigen Impfschutz gegen Masern haben. Sondern weniger. In Südafrika und Indonesien hatten nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation nicht einmal 80 Prozent der Einjährigen die erste Impfung erhalten.
Und jetzt ist sie da, die heiß ersehnte Impfpflicht – und plötzlich fällt auf, dass jemand sie exekutieren muss. Und dass es vielleicht doch nicht so gut ist, das den Leiter*innen von Kindergärten und Schulen aufzulegen, wie es das Gesetz vorsieht. So wie es übrigens von Anfang an geplant war, das war keine kurz vor Schluss ins Gesetz hineingeschriebene Gemeinheit.
Es gab genug Sachverständige, die in diesem Jahr darauf hingewiesen haben, dass Kindergärten kein verlängerter Arm der Seuchenschutzbehörden sein dürfen – weil die Arbeit mit Eltern und Kindern auf einem Vertrauensverhältnis fußt. Aber das hat die abstimmenden Parlamentarier*innen offenbar genauso wenig irritiert wie die Frage danach, wie man mit Lehrer*innen und Erzieher*innen verfahren soll, die sich einfach nicht impfen lassen wollen.
Wird schon, passt schon, stellt euch nicht so an, ist ja im Sinne der Allgemeinheit – irgendwie so muss es den Leitartikler*innen und anderen Impfpflicht-Befürworter*innen durch den Kopf gegangen sein. Es ist davon auszugehen, dass sich ein nicht kleiner Teil von ihnen darüber gefreut hat, es den Globuli schluckenden Wollpulloverträger*innen mal so richtig zu geben. Es ist ein liebevoll gepflegtes Klischee, dass alle Waldorf-Freund*innen mit ihren Kindern auf Masern-Partys gehen und sich einen Dreck um die Gesundheit anderer scheren. Wer will da noch wissen, dass der Anteil der totalen Impfverweigerer bei einem Prozent liegt, Tendenz sinkend? Oder dass die Impflücken vor allem bei jungen Erwachsenen bestehen?
Aber stimmt, die erwischt man jetzt mit dem Gesetz auch. Jedenfalls diejenigen, die mit Kindern oder im Krankenhaus arbeiten. Und die anderen – sind hoffentlich durch die Berichterstattung mit imprägniert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos