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Umbruch Die Große Transformation des Kapitalismus hat begonnen – überall gleichzeitig und ohne Modell. Was heranwächst, könnte das alte System eines Tages obsolet machenDas Ökosystem der Alter-nativen ist aus der Nische

Von Christian Felber und Ute Scheub

Eine erstaunliche Umfrage der Bertelsmann-Stiftung ergab, dass sich fast 90 Prozent der Deutschen und Österreicher eine ökosoziale „Neue Wirtschaftsordnung” wünschen. Wenn man diese Zahl zitierte, hieß es oft: Es sei leicht, gegen etwas zu sein und sich etwas anderes zu wünschen, aber mit der Einigkeit der Befragten sei es vorbei, wenn sie die neue Ordnung konkretisieren sollten. Nun ließ das Bundesumweltministerium repräsentativ nachfragen: „Soll das Bruttonationalglück zum obersten Ziel der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden und alle anderen Ziele diesem untergeordnet werden?” 67 Prozent sprachen sich dafür aus – eine Verfassungsmehrheit!

Sollte dieser souveräne Wille in der Politik ankommen, würde das eine Revolution auslösen: Sämtliche Politikfelder würden daran gemessen, was sie beitragen zur „umfassenden Lebenszufriedenheit” , sprich zu Glück und Gemeinwohl. BIP-Wachstum, Umsätze und Renditen würden systematisch erblassen – im Zentrum der Aufmerksamkeit stünden Gesundheit, Bildung, Gerechtigkeit, Selbst- und Mitbestimmung, intakte Natur, Stabilität und Friede. Immer und überall müssten sich Gesetzgeber, „Märkte” und Unternehmen rechtfertigen, was sie zum Erreichen dieser Ziele beitrügen.

Diese „Schubumkehr” in Politik und Ökonomie würde der kapitalistischen Wirtschaft den Nährboden entziehen und sie schrittweise austrocknen, während es auf ethische Alternativ­ökonomien wie Dünger wirken würde. Die Keime der Alternativen sind längst da – nur ist keine Pflanze bisher „systemrelevant” geworden. Kein Wunder, es handelt sich dabei um keine Monokultur wie der Kapitalismus, sondern um ein hochdiverses Ökosystem.

Auf dem Kongress zur Solidarischen Ökonomie Mitte September in Berlin unter dem Motto „Wir können auch anders” wird zu besichtigen sein, wie vielfältige Kooperativen, Kollektive, Initiativen, Sozial­unternehmen und Non-Profit-Betriebe es bereits gibt, die anders wirtschaften. Allein Genossenschaften haben heute global zwischen 800 Millionen und einer Milliarde Mitglieder, mehr als alle transnationalen Konzerne zusammen. Rein rechnerisch ist damit jeder siebte bis neunte Erdling Genossenschafter – von „Nische” kann da keine Rede mehr sein.

Alt und neu gleichzeitig sind die Gemeingüter oder Allmenden, englisch „Commons”. Sie sind auf der ganzen Welt verbreitet und viel älter sind als der Kapitalismus. Gemeinschaftsbesitz reicht von Fischgründen und Bergalmen bis zu Sprache, Wissen und Computersystemen.

Die kollaborative Ökonomie und die Open-Source-Bewegung knüpfen an den klassischen Allmenden an. Weltweit sind Millionen von Unternehmen direkt oder indirekt daran beteiligt. Das bekannteste Beispiel ist die Linux-Software, die auf unzähligen Betriebsrechnern läuft, oder Wikipedia. Inzwischen breitet sich das Prinzip der „Offenen Quellen“ auch im Hardware-Bereich aus. Ein strategisch entscheidender Punkt: In Fablabs und Offenen Werkstätten werden heute schon Güter des täglichen Bedarfs produziert – wesentlich lustvoller und ökosozialer als Chinas ausbeuterischen Weltfabriken.

Vordenker wie Michel Bauwens und Jeremy Rifkin rechnen damit, dass diese patent- und lizenzfreie „Peer-to-Peer-Produktion” in den nächsten Jahrzehnten die kapitalistische Warenwirtschaft unterhöhlen wird. Organisationen mutieren zu „integralen“ oder „evolutionären Unternehmen“, wie sie der Ex-Unternehmensberater Frederic Laloux in seinem Buch „Reinventing Organizations“ nennt. Damit meint er Betriebe, die ihre Hierarchien und Kontrollinstanzen abgeschafft haben und sich auf selbstorganisierte Teams stützen, in denen alle ihr kreatives Potenzial entfalten können.

Auch die vom britischen Permakultur-Aktivisten Rob Hopkins gegründete Bewegung der Transition Towns ist inzwischen fast weltumspannend aktiv. In 43 Ländern bereiten über 1.200 Initiativen, Ge­meinden und Städte in lustvoller, gemeinschaftlicher Weise auf ein postfossiles Leben vor. „Neustart Schweiz“, eine Variante dieser Idee, will die „2000-Watt-Gesellschaft“ verwirklichen und die Zersiedelung mit Hilfe von multifunktionalen Nachbarschaften stoppen.

Damit verwandt sind Initiativen des Stadtgärtnerns oder der Solidarischen Landwirtschaft – auch als Zeichen des Widerstands gegen die zerstörerische Agroindustrie. In Deutschland gibt es mittlerweile fast 500 urbane Gemeinschaftsgärten, davon viele interkulturelle. Beinahe 100 Höfe verkaufen ihre Produkte nicht mehr auf dem Markt, sondern produzieren sie für die sie tragende Gemeinschaft. In Japan versorgen „Tei­kei“-Partnerschaftshöfe gar ein Viertel aller Einwohner.

Die 2010 gestartete Ge­meinwohlökonomie-Bewegung möchte den Erfolg von Betrieben und Volkswirtschaften nicht primär monetär, sondern ethisch bilanzieren. Sie ist inzwischen in rund 40 Ländern präsent: neben Österreich, Deutschland, der Schweiz, Italien und Spanien auch in Argentinien, Kolumbien, Mexiko und Großbritannien. In Kommunen sollen dezentrale Verfassungsprozesse in Gang gesetzt werden für eine demokratisch kontrollierbare Wirtschafts- und Geldordnung. Daraus soll später eine „Souveräne Demokratie” erwachsen, in der die Grundsatzfragen von allen Menschen und „nur” noch die Gesetze von Parlamenten beschlossen werden.

Das Ökosystem der Alternativen gewinnt an Artenvielfalt, Breite und Tiefe. Zusammen erfüllt es den Wunsch nach einer „Neuen Wirtschaftsordnung”, zusammen erfüllen es die Grundwerte von Menschenwürde bis Nachhaltigkeit – und zusammen hebt es die Lebensqualität und schafft ein gutes Leben für alle. In der Zukunft könnte der Erfolg in der Wirtschaft mit Bruttonationalglück und Gemeinwohl-Bilanz gemessen werden.

Die Zukunft hat längst begonnen. Sie kommt weder aus Hollywood noch aus der City of London. Sie erzählt sich ­dezentral und hochdivers in zahllosen Geschichten des ­Anders-Denkens und Anders-Handelns. Langsam, aber sicher entwickeln diese Nischen und Alternativen Systemrelevanz.

Der Autor ist Publizist und Vordenker der Gemeinohlökonomie Die Autorin ist taz-Gründerin und freie Publizistin in Berlin

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