Ulrike Ottinger in Paris: Flanieren und studieren
In „Paris Caligrammes“, einer Schau im Berliner Haus der Kulturen der Welt, erinnert sich Ulrike Ottinger an das Paris der 1960er Jahre.
Sie war 20 Jahre alt, als sie in Paris ankam, 1962. Das letzte Stück ist sie getrampt; ihre Isetta, mit der sie aus der Nähe von Konstanz aufgebrochen war, war unterwegs liegen geblieben.
„Gehen und sehen wurden zu meiner aufregendsten Beschäftigung“, beginnt Ulrike Ottinger, heute 78, einen Text der Erinnerung. Sie wird zur Flaneurin, was sonst. (Und eigentlich ist sie das immer geblieben, auch als Filmemacherin jahrzehntelang, die nach China, in die Mongolei und nach Alaska und zu den Aleuten reist, immer ausdauernd beobachtend). In Paris studiert die junge Deutsche weiter Kunst, Radiertechnik, und sie wird zur Intellektuellen. Ein Foto zeigt sie mit dunklem Hut, nur der Kopf schaut über einen mit Ratten und Herzen bemalten plastischen Torso, den sie sich vor den Körper hält.
Als schwarz-weiße Fotografie zeigt sich Ulrike Ottinger so halb mit ihrer Skulptur verschmolzen auf der ersten Seite ihres Buches „Paris Calligrammes“, in der gleichnamigem Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt findet man das Motiv wieder, diesmal aus farbigen Stoffen genäht.
Die Librairie der Emigranten
Beides, Buch und Ausstellung, sind Nebenstränge eines Films über ihre Pariser Jahre, aber jeder Teil ist lesbar für sich. Motive wiederholen sich, sie werden zu Begleitern bei der Reise durch die Zeit. Große Portraits aus Flächen und Konturen, großflächig im Stil der Pop-Art der 60er Jahre aus Puzzleelementen zusammengesetzt, von Allen Ginsberg, Tristan Tzara, Valeska Gert bildeten damals die Koordinaten ihrer Welt und bilden sie jetzt wieder, aus glänzenden und samtigen Stoffen genäht.
„Paris Calligrammes“, bis 13. Oktober, im Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Das gleichnamige Buch ist bei Hatje Cantz erschienen, 24 Euro.
Sie sind Protagonisten eines Raums in der Ausstellung, der dem Buchhändler Fritz Picard und seiner „Librairie Caligrammes“ gewidmet ist. Picard, der aus einer jüdischen Familie in Baden stammte, ist in einem kleinen Schaufenster inmitten seiner Bücher in Fotografien zu sehen und in historischen Interviews zu hören. Seine Librairie war Anlaufstelle für viele deutsche Migranten und wurde für Ottinger zum Tor in der Geschichte der von den Nationalsozialisten Verfolgten.
Hier konnte sie sich mit Deutschland und seiner Vergangenheit auseinandersetzen, sich verbinden mit denen, die verdrängt worden waren. Ausführlich erzählt sie in ihrem Film mit Fotografien und Kunstwerken der Zeit Picards Geschichte. Den Film kann man nicht sehen in der Ausstellung, aber eine Wand ist mit Drehbuchauszügen und den historischen Quellen gepflastert.
Spuren der Kolonialzeit
Ein anderes Kapitel, zwei weitere Räume, sind dem „Algerischen Trauma“ und den Spuren des Kolonialismus gewidmet. Ulrike Ottinger zeigt Fotografien von Ré Soupault, die in den dreißiger Jahren in Tunesien unterwegs war, vor allem Frauen fotografierte und von deren Ausschluss aus den meisten gesellschaftlichen Feldern berichtete. Aus den fünfziger Jahren sieht man Fotografien von Pierre Bourdieu aus Algerien, er hatte das Land als Soziologe und Ethnologe bereist, und suchte einen verstehenden, liebevollen Blick.
In Siebdrucktechnik, mit Pictogrammen von Soldaten, Helikoptern und einem Anzugträger, der einen Morgenstern schwingt, thematisierte Ottinger 1966/67 einen Krieg, der von Bürokraten verordnet wird, die ihn nicht selbst führen. Auch diese Bilder sind nun für die Ausstellung aus Stoff neu entstanden, Wiederholung, Übersetzung, glamouröser Pop.
Ottinger nutzt auch filmische Dokumente in der Ausstellung ihrer Erinnerungslandschaft. Auf einer Leinwand sieht man Militärparaden aus Algier, Marseille und Paris, aus den 1940er und 1950 Jahren mit schwarzen Regimentern, zu Fuß und zu Pferde. Auf der Leinwand gegenüber lädt sie in afrikanische Frisiersalons ein, die sie in der Nähe der Gare du Nord mit ihrer Kamera besucht hat und gibt sich dem Zuschauen hin.
Einerseits ist die Schau kleinteilig, Bücher liegen aus, es gibt Postkartensammlungen, exotische Motive aus Saigon, Comics zum Vietnamkrieg aus einer französischen Tageszeitung, Drehbuchseiten mit Textauszügen. Man bleibt hängen an Details, bekommt das Ganze nicht zu fassen. Aber findet dann doch vieles wieder in Ottingers alten und neuen Bildern. Die Ausstellung ist auch lesbar als ein Glossar dazu, als eine Anhäufung dessen, was sie als junge Frau beschäftigt hat und bis heute für sie als Künstlerin und Filmemacherin wichtig geblieben ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist