Ukrainischer Politologe: „Dieser Skandal schwächt Selenskyjs Verhandlungsposition“
Trumps neue „Friedensoffensive“ kommt nicht zufällig jetzt, sagt der Politologe Wolodymyr Fesenko. Anlass ist auch der aktuelle Korruptionsskandal.
taz: Herr Fesenko, heute kehrte Präsident Selenskyj von einer längeren Auslandsreise zurück. Ist die Ukraine in seiner Abwesenheit vor dem Hintergrund des Korruptionsskandals ein anderes Land geworden?
Wolodymyr Fesenko: Nein, wir hatten diese Probleme ja schon vor der Abreise von Präsident Selenskyj nach Europa.
taz: Aber die Rücktritte von Ministern, die Rücktrittsforderung an die Regierung und an den Leiter der Präsidialadministration haben doch eine neue Qualität.
Fesenko: Von wem kommt die Rücktrittsforderung an die Regierung? Vor allem von Ex-Präsident Poroschenko und seiner Fraktion Europäische Solidarität. Wie es jetzt weitergeht, hängt davon ab, wie flexibel Präsident Selenskyj auf die Konflikte reagiert, wie gut er den Dialog mit seiner Fraktion, konkurrierenden Kräften und der Gesellschaft moderiert.
taz: Also keine neue Regierung?
Fesenko: Es kann durchaus sein, dass der eine oder andere Minister, oder auch der Leiter der Präsidialadministration noch zurücktritt. Etwa, wenn weitere Details von korrupten Handlungen an die Öffentlichkeit kommen.
taz: Vor wenigen Tagen hatte der Abgeordnete der Regierungspartei Diener des Volkes, Mykyta Poturajew, eine Erklärung von Abgeordneten der Diener des Volkes veröffentlicht, die eine neue Regierungskoalition fordern.
Fesenko: Poturajew wird maximal von 10 Abgeordneten der Diener des Volkes unterstützt. Fraktionschef David Arachamia hat die Fraktion weiterhin in der Hand – und damit ist die Mehrheit im Parlament gesichert. Gleichwohl besteht die Gefahr, dass direkt gewählte Abgeordnete die Fraktion verlassen. Dann könnte die Fraktion die parlamentarische Mehrheit verlieren, was wiederum eine parlamentarische Krise auslösen würde. Auch besteht das Risiko, dass die Fraktion auseinanderbricht.
taz: Es wird also keine neue Regierung, möglicherweise aber Neubesetzungen geben?
Fesenko: Ja, ich halte eine Neubesetzung des Leiters der Präsidialadministration für möglich. Möglich wäre auch, dass Premierministerin Syridenko in das Präsidialamt wechselt. An ihrer Stelle könnten Oxana Makarowa, Ex-Botschafterin in den USA, Michail Fedorow oder Taras Katschka treten. Aber die meisten Minister werden ihre Posten behalten.
taz: Haben die Korruptionsskandale Einfluß auf den Verhandlungsprozess zur Beendigung des Krieges?
Fesenko: Ja, dieser Skandal schwächt die Verhandlungsposition von Selenskyj und der Ukraine. Nicht nur bei Friedensverhandlungen, auch bei Hilfen für die Ukraine oder Reparationszahlungen, wie sie gerade die EU diskutiert.
taz: Ist es Zufall, dass gerade jetzt, wo die Ukraine mit der Korruptionsaffäre kämpft, wieder von Friedensverhandlungen die Rede ist?
Fesenko: Ich denke, dass die Trump-Administration die Situation ausnutzt und glaubt, dass es so einfacher wird, Druck auf Selenskyj auszuüben.
taz: Und wie wird sich Selenskyj zu dem jetzt teilweise bekannt gewordenen US-Plan verhalten?
Fesenko: Den von Witkoff und Dmitriew ausgearbeiteten Friedensplan wird Selenskyj nicht annehmen. Da ist er auch zu einem Konflikt mit Trump bereit. Selenskyj wird keine großen Zugeständnisse machen. Ein kommissarisch eingesetzter Regierungschef oder Präsident hingegen vielleicht schon.
taz: Welche Perspektiven haben Friedensverhandlungen?
Fesenko: Aktuell habe ich wenig Hoffnungen. Wenn die USA und die Russen mitmachen, kann es bald zu Verhandlungen in Istanbul kommen. Aber schnelle Ergebnisse wird es nicht geben. Ich sehe das so wie Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes: Ich glaube, dass es vor Mitte Februar kein greifbares Ergebnis geben wird. Russland will weiter angreifen, Pokrowsk, Kupjansk einnehmen, in den Gebieten Saporischschja und Dnipro weiter vordringen. Sie gehen davon aus, dass sie militärisch überlegen sind. Und deswegen ist Russland aktuell nicht zu Verhandlungen bereit.
taz: Zu welchen Kompromissen wäre die Ukraine bereit?
Fesenko: Die russische Seite will eine ukrainische Armee, die halb so groß ist. Aber wir machen das nicht einseitig. Das heißt, wir verkleinern unsere Armee nur, wenn auch Russland seine Präsenz in den besetzten Gebieten und den Grenzgebieten zur Ukraine entsprechend verkleinert.
taz: Russland fordert einen offiziellen Status der russischen Sprache in der Ukraine.
Fesenko: Der Großteil unserer Gesellschaft, nicht alle, lehnen seit Beginn des Angriffes auf die Ukraine alles Russische ab: die Sprache und die Kultur. Gleichwohl kann ich mir hier einen Kompromiss vorstellen. Wir könnten der russischen Sprache im Einklang mit der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen einen Minderheitenstatus einräumen.
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