Ukrainische Offensive in Russland: „Atomare Erpressung“
In der russischen Region Kursk liegt auch das gleichnamige Atomkraftwerk. Wollen die ukrainischen Truppen versuchen, es einzunehmen?
Während im Gebiet Kursk ukrainische Truppen stehen, debattiert man auf beiden Seiten über eine mögliche Einnahme des Atomkraftwerkes Kursk durch ukrainische Truppen. „Die ukrainische Armee nähert sich dem AKW Kursk: nur noch 45 Kilometer zum Kraftwerk“ titelt die ukrainische Plattform dialog.ua.
Angesichts der unklaren Lage um das Atomkraftwerk herrsche in der Region Panik, berichtet das ukrainische Portal www.5.ua. Russland habe Verstärkung zum Schutz des Kraftwerkes nach Kurtschatow geschickt, wo sich das AKW befindet. Doch nur eine kleine Einheit der russischen Nationalgarde sei vor Ort, so das ukrainische Portal.
Darüber, wie weit die ukrainischen Truppen auf russisches Territorium vorgedrungen sind, gibt es unterschiedliche Angaben. Die Moscow Times spricht unter Berufung auf russische Telegram-Kanäle von 20 Kilometern. Andere Quellen sprechen von 10 Kilometern. Derzeit werde das russische Dorf Anastasievka, das gerade mal 30 Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt sei, beschossen. Unter den Mitarbeitern des AKW herrsche Panik, berichtet das ukrainische Portal 24tv.ua. Für einen derartigen Fall gebe es keine Verhaltensregeln und keine Einsatzpläne. Ständig höre man Sirenen, zitiert das Portal einen namentlich nicht genannten Mitarbeiter des Kraftwerkes.
Nachrichten in Telegram-Channeln
Prorussische Telegram-Kanäle räumen ukrainische Gebietsgewinne ein. So sei den Ukrainern nach Angaben des Kanals „Rybar“ gelungen, die Stadt Sudscha weitgehend unter Kontrolle zu bringen. Außerdem sei das ukrainische Militär in die Siedlung Mirni eingedrungen, kontrolliere aktuell die russischen Dörfer Kasachja Loknja, Bogdanowka, Knjaschni.
Was man mit dem Angriff auf das ukrainische AKW Saporischschja erlebt habe, könne sich nun auch in Russland wiederholen, meint der russische Atomphysiker Andrej Oscharowski gegenüber der taz. AKWs stellten nun mal bei kriegerischen Kämpfen oder Terroranschlägen eine Gefahr dar. Oscharowski fürchtet nicht nur um das AKW Kursk. Auch die AKWs Rostow und Smolensk könne es treffen. „Und das wäre natürlich sehr schlimm.“
Offiziellen russischen Darstellungen indes zufolge ist der ukrainische Vormarsch gestoppt. Dies meldet jedenfalls der Chef des russischen Generalstabs, Waleri Gerassimow. Die ukrainische Operation in der Region Kursk werde mit deren „Niederlage“ enden, so Gerassimow. Und der stellvertretende Gouverneur des Gebietes Kursk, Andrej Belostozkij, berichtet im russischen Fernsehen, dass der Feind nicht einen Meter vordringen könne. Derzeit würden die Saboteure und ihre Waffen vernichtet, so Belostozkij. So unterschiedlich wie die Sichtweisen und Nachrichten über den aktuellen Stand des ukrainischen Angriffs auf russisches Territorium sind auch die Einschätzungen eines möglichen Angriffs auf das AKW Kursk.
In Kursk wird noch mit Reaktoren gearbeitet, die auch in Tschernobyl im Einsatz waren. Viktor Andrusiw, ein der Regierung nahestehender Aktivist und früherer Mitarbeiter im Wahlkampfteam von Wolodymyr Selenskyj, sieht mehrere Gründe für den Versuch, „das Gebiet Kursk zu befreien“. Doch der wichtigste ist für ihn das AKW. Offensichtlich wolle man das AKW Kursk erobern, um es dann gegen das von Russland besetzte AKW Saporischschja auszutauschen. Allerdings rechnet er dem Unterfangen nur wenige Erfolgschancen aus.
Vormarsch für „atomare Erpressung“?
Auch der russische Politologe Sergej Markow geht davon aus, die Ukraine wolle das AKW erobern, um es auszutauschen. Dmitry Rogosin, Senator der von Russland annektierten Region Saporischschja, ist sich sicher: Die ukrainische Armee sei nach Russland eingedrungen, weil sie zum AKW Kursk wollte, um dann mit diesem eine „atomare Erpressung“ vorzunehmen.
Ganz anders sieht dies der ehemalige Mitarbeiter des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU, Iwan Stupak. Die Ukraine werde das AKW Kursk nicht angreifen, einfach deswegen, weil ein Angriff auf das AKW keinen Sinn ergebe, erklärte er gegenüber dem Kanal „Kyjiw 24“. „Wir sind doch keine Atomterroristen.“
Andere russische Militärblogger bezweifeln, dass es der Ukraine überhaupt möglich sein könne, das Kernkraftwerk Kursk zu erobern. So glaubt der russische Blogger Juri Podoljaka nicht, dass sich die Ukraine auf so ein Abenteuer einlassen werde. Und dem stimmt der prorussische Kanal „Zwei Majore“ zu. Hundert Kilometer auf der Straße zum Kraftwerk vorzudringen sei ein Ding der Unmöglichkeit, meint ein Alexej Schiwow.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!