Ukrainische Lokalzeitung in Snihuriwka: Die Rosen zwischen den Ruinen
In der von Russland zerstörten Kleinstadt Snihuriwka kämpft Ihor Nowikow ums Überleben seiner Lokalzeitung. Sie ist für viele mehr als nur ein Medium.

Liebevoll pflückt Ihor Nowikow einige der Rosen und trägt sie in das Nachbaranwesen. Auch dieses Haus ist zerstört. Nowikow legt die Blumen auf einen Fenstersims, bleibt mehrere Minuten schweigend vor dem Haus stehen und dreht sich wieder um. „Hier hat mein Freund gelebt“ erklärt er.
Snihuriwka ist die Heimat von Ihor Nowikow. Er liebt seine Stadt und er ist der Chefredakteur der einzigen vor Ort erscheinenden Lokalzeitung Visti Snigurivschtschiny (Nachrichten des Gebietes Snihuriwka). Die 1930 gegründete Zeitung war zu Sowjetzeiten lange ein Sprachrohr der sowjetischen Propaganda.
Doch unter der Regie von Nowikow wurde das Blatt nicht nur zum Informationsmedium, sondern auch zu einem Symbol des Widerstands, der Stabilität und der Hoffnung in einer Zeit des Krieges und der russischen Besatzung.
Der 19. März 2022 war ein schwarzer Tag für Snihuriwka. An diesem Tag waren die russischen Truppen in den Ort einmarschiert. Ab diesem Tag war an Zeitungmachen in Snihuriwka nicht mehr zu denken. Am 25. Februar 2022 war die vorerst letzte Ausgabe in den Verkauf gegangen. „Es gab keine Druckerei mehr, keine Möglichkeit, Redaktionssitzungen abzuhalten“, sagt der Chefredakteur.
Acht Monate lang erschien die Zeitung nicht. Die Redaktion war zerstreut, viele Mitarbeiter waren nicht mehr erreichbar. Ihor Nowikow machte sich mit seiner schwer krebskranken Mutter auf den Weg nach Odessa, wo sie hofften, ihr eine Fortsetzung der Behandlung zu ermöglichen. Während der russischen Besatzung arbeitete die Redaktion von Odessa aus weiter, druckte die Zeitung dort und brachte sie in die Orte, die nicht von der russischen Armee kontrolliert wurden.
Während der russischen Besatzung riefen die Redakteure gemeinsam mit anderen Geflüchteten in Odessa in einer Videoansprache die Bevölkerung des besetzten Snihuriwka auf, sich nicht an den von den Besatzungstruppen organisierten Scheinreferenden über eine Eingliederung in die Russische Föderation zu beteiligen. „Wir wollten den Menschen zeigen, dass die Ukraine nicht aufgegeben hat, dass wir als Redaktion auch dann präsent sind, wenn unsere Stadt besetzt ist.“, erzählt Nowikow.
Schlecht organisiert und kaum funktionsfähig
Während die ukrainische Seite unter großem Aufwand versuchte, ihre lokale Presse am Leben zu halten, gingen die russischen Besatzer strategisch und gut finanziert vor: sie nutzten bestehende Marken von Lokalzeitungen der Gebiete Odessa und Mikolajew für eigene Propagandablätter, kopierten Logos, und verteilten diese über die von ihnen kontrollierte Infrastruktur, berichtet Nowikow. „Glücklicherweise ist unsere Zeitung, Visti Snigurivschtschiny, davor verschont geblieben“ sagt er.
„Russland investiert massiv in Medien auf besetzten Gebieten – unsere Regierung leider nicht“, kritisiert der Redakteur. Der ukrainische Postdienst „Ukrposhta“ sei unterbesetzt, schlecht organisiert und in ländlichen Gebieten nicht mehr funktionsfähig.
„Sie bringen die Zeitungen nicht mehr bis in die Häuser, obwohl die Menschen dafür zahlen.“ Doch nicht alle Leser aus den umliegenden Dörfern machen sich die Mühe, eine der Verkaufsstellen der Zeitung in der Stadt aufzusuchen.
Erst am 10. November 2022 konnte Visti Snigurivschtschiny wieder eine Ausgabe drucken – mit Unterstützung der ukrainischen Journalistengewerkschaft und Stiftungen aus der Schweiz.
Heute besteht das Redaktionsteam aus vier Mitarbeitenden. Die Auflage ist im Vergleich zu früher stark gesunken – aktuell etwa 1.540 Exemplare, von ursprünglich 2.500. Es ist schwer geworden, Anzeigenkunden zu finden. Der Einzelverkauf läuft über 15 Verkaufsstellen in der Stadt. Es ist ein ständiger Kampf, finanziell über Wasser zu bleiben. Die meisten Mitarbeiter verdienen zwischen 200 und 300 Euro im Monat – gerade genug zum Überleben.
Doch aufgeben kommt nicht infrage. „Eine Zeitung im Ort zu haben, ist ein Zeichen von Stabilität“, erklärt der Redakteur, dem es wichtig ist, mit einer Printzeitung vor Ort präsent zu sein. „Gerade den Menschen in den umliegenden Dörfern, in denen oft der Strom und das Internet ausfallen und es wenig Informationen gibt, zeigen wir mit dem Verkauf der Zeitung in Snihuriwka: Die Ukraine ist wirklich zurück im Gebiet Snihuriwka.“
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