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Ukrainische Geflüchtete in DeutschlandMit Anschluss an die Familie

Viele Geflüchtete aus der Ukraine sind privat untergekommen. Ein Besuch in einer ungewöhnlichen Wohngemeinschaft in Brandenburg.

Jörg Schmidt-Wottrich und Anissja Wottrich (rechts) mit ihren Mitbewohnerinnen aus der Ukraine Foto: Ulrich Nettelstroth

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Der Wald ist dicht und grün hier. Das ist Lena Kasjanova gleich aufgefallen, als sie am 8. März mit ihrer Tochter Mascha in der brandenburgischen Kleinstadt Falkensee am Rande von Berlin angekommen ist. Fünf Tage vorher hatte sie eine Reisetasche gepackt in Saporischschja in der Ostukraine und ihre Heimat verlassen. Untergeschlüpft ist sie bei Jörg Schmidt-Wottrich und Anissja Wottrich. „Wir waren völlig schockiert über den Einmarsch der Russen in die Ukraine und hatten ein starkes Bedürfnis, etwas zu tun“, berichtet Jörg Schmidt-Wottrich.

Sie hatten im Souterrain ein Zimmer mit separatem Bad frei. Früher wohnten dort Au-Pairs, darunter auch zwei Ukrainerinnen, später eine Austauschschülerin aus Kalifornien. Jetzt sind Mutter und Tochter aus der Ukraine dort untergekommen. Für Jörg, von Beruf Rechtsanwalt, und Anissja, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, ist das eine unproblematische Wohngemeinschaft. „Wir kochen zusammen, wir essen zusammen“, sagt er. Weil er von zu Hause aus arbeitet, kann er die Gäste gut im Alltag unterstützen.

Die Verständigung läuft über den Übersetzungscomputer im Handy, den „Perevodchik“, wie er auf Russisch heißt. Die 39-jährige Lena Kasjanova, die als Tochter eines sowjetischen Militärangehörigen bis zum zweiten Geburtstag in der DDR gelebt und später in der Schule etwas Deutsch gelernt hat, versteht aber auch schon viel ohne das Gerät. Sie hat Mühe, auf Hilfe angewiesen zu sein, denn in der Ukraine stand sie immer auf ihren eigenen Beinen, hatte eine kleine Produktion von Kinderkleidung.

Sie näht wieder

In ihrem Zimmer im Souterrain stehen zwei Nähmaschinen. Sie näht wieder Kleider, vielleicht kann sie auch in ihrem erlernten Beruf als medizinische Fachangestellte in einer russischsprachigen Zahnarztpraxis in Berlin anfangen. „Das Wichtigste ist für mich, dass meine Familie bei mir ist“, sagt sie und meint die neunjährige Mascha, die mit dem Fahrrad in die nahe Grundschule fahren kann, aber auch ihren Mann, mit dem sie täglich per Videotelefonat Kontakt hat. „Er passt auf das Haus auf“, sagt sie. Die Frontlinie ist nah, seine Baufirma steht seit Kriegsbeginn still.

Mehr als 850.000 Menschen aus der Ukraine sind seit Ende Februar nach Deutschland geflüchtet. Im Landkreis Havelland, zu dem Falkensee gehört, wurden 1.500 aufgenommen, davon allein 1.200 privat in Familien, berichtet Jörg Schmidt-Wottrich, der auch in der örtlichen Willkommensinitiative aktiv ist. Die Hilfsbereitschaft ist groß, auch Deutschunterricht und Unterstützung bei Behördengängen wird durch die Initiative organisiert.

Solche Hilfsbereitschaft für Geflüchtete ist nicht selbstverständlich, sagt Wilhelm Heitmeyer, Soziologe an der Universität Bielefeld. Wenn es um die Solidarität mit notleidenden Menschen gehe, gingen eher wenige mit einem universalistischen Ansatz heran, der alle gleichwertig zu behandeln versuche. „Andere legen eurozentristische oder ethnonationale Kriterien an“, sagt Heitmeyer. Solidarität für Menschen mit europäischem Hintergrund oder für Deutsche falle also leichter.

Als 2015 Kriegsflüchtlinge aus Syrien kamen, habe es zwar zunächst aufgrund der Bilder vom Krieg eine große Hilfsbereitschaft gegeben, es sei dann aber bald eine Gegenbewegung eingetreten. „Das Wort von der Willkommenskultur war damals ein gefährlicher Begriff“, sagt der Soziologe. Er habe die Aufnahme der Flüchtlinge idealisiert und gleichzeitig signalisiert, dass es sich um eine dauerhafte Aufnahme handle.

Das habe eine Abwehr provoziert, insbesondere im rechten Spektrum mit ethnisch-nationalen Solidaritätsvorstellungen bis hin zur Gewalt. Außerdem seien anfangs teilweise falsche Bilder verbreitet worden, von Familien mit Frauen und Kindern in kleinen Booten auf dem Mittelmeer. In den Aufnahmezentren hätten dann aber vielfach junge Männer dominiert. „Oft wurde den Flüchtlingen eine Einwanderung in die Sozialsysteme unterstellt, ohne verfolgt zu sein“, sagt Heitmeyer.

Geflüchtete aus der Ukraine hätten es heute leichter, es gebe weniger Abwehr. Sie würden oft als Teil der europäischen Familie und nicht als Flüchtlinge aus fremdem Kulturkreis empfunden. Eine Rolle spiele auch, wie sich Entscheidungsträger positionierten. Menschen aus der Ukraine würden von Politik und Behörden willkommen geheißen, zumal vor allem Frauen mit Kindern geflüchtet seien.

Jörg Schmidt-Wottrich und Anissja Wottrich haben schon 2015 kurzzeitig eine afghanische Familie aufgenommen und waren kontinuierlich an Hilfen für Geflüchtete, etwa aus Syrien, beteiligt. Dass jetzt die Solidarität noch größer ist, hat aus ihrer Sicht auch mit dem Bedrohungsgefühl zu tun, das der Krieg in der Ukraine hier auslöse, im Unterschied etwa zu den ebenfalls sehr nahen Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre. Deutschland sei mit Waffenlieferungen involviert und von den Russland-Sanktionen betroffen. Den Wunsch ihrer Mitbewohnerin können beide unterschreiben. „Solidarität wäre für mich“, sagt Lena Kasjanova, „wenn die Menschen friedlich zusammenleben.“

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