Übertragung von Poesie: Wenn Gebärden zu Gedichten werden
Taube und hörende KünstlerInnen teilen sich in Berlin die Bühne. Sie übertragen Poesie aus Gebärdensprache in Lautsprache und umgekehrt.
Schon beim Anstehen mit Abstand vor der 3G-Kontrolle am Einlass ist die Atmosphäre spürbar anders als gewohnt: Es ist so schön still. Statt des in solchen Situationen üblichen Stimmengewirrs, das einem in so einem engen Treppenhaus wie hier im Berliner Acud auch auf die Nerven gehen könnte, ist einzig das leise, rhythmisch strukturierte Geraschel einer Steppjacke zu vernehmen.
Sie gehört dem gebärdenden Mann, der vor mir steht und sich mit seiner Begleiterin unterhält. Fasziniert lausche ich der Jacke, reiße meinen Blick aber los von den Gebärden, weil ich mir beim Hingucken vorkomme, als belauschte ich ein fremdes Gespräch, obwohl ich ja kein Wort verstehe. Hinter mir stehen zwei Frauen, die ebenfalls eine Unterhaltung in Gebärdensprache führen. Da sie keine Steppjacken, sondern Wollmäntel tragen, bleibt ihr Dialog ohne Soundtrack.
Am Einlass dann werden für die Hörenden im Publikum überraschenderweise Ohrenstöpsel ausgegeben, samt einer Warnung vor „basslastiger Musik“. Der Musiker Tim Schwerdter wird später im Podiumsgespräch erklären, dass es darum gegangen sei, die Tonspur physisch spürbar zu machen für die Tauben PerformerInnen. Der Begriff „Taub“, nunmehr in Großschreibung als Zeichen der Selbstermächtigung, hat innerhalb ungefähr des letzten Jahrzehnts eine Rehabilitation erfahren, ausgehend vom im angloamerikanischen Sprachraum entwickelten kulturellen Konzept der „Deafhood“.
Zweifelhafter Terminus
Der hierzulande gut eingeführte Terminus „gehörlos“ hat den Nachteil, dass er ein Defizit beschreibt. Man könne ihn schon noch weiterhin verwenden, sagt Franziska Winkler, Leiterin des Projekts „TextKörper – KörperText“, das in Zusammenarbeit mit der Kreuzberger Lettrétage zustande kam und dessentwegen wir an diesem Abend im Treppenhaus Schlange stehen. Doch gehe es darum, das Taubsein als eigene kulturelle Identität wahrzunehmen und gesellschaftlich anzuerkennen. Deafhood ist nicht defizitär, sondern eben anders.
„TextKörper – KörperText“ findet als Workshop und Publikumsveranstaltung schon zum zweiten Mal statt. Es geht in der Veranstaltungsreihe, grob gesagt, um die Übertragung poetischer Ausdrucksmittel von der Laut- in die Gebärdensprache und umgekehrt – und um die Weiterentwicklung der dabei verwendeten Ausdrucksmittel.
Heute Abend werden die Ergebnisse von fünftägigen Workshops präsentiert, an denen insgesamt sieben KünstlerInnen teilgenommen haben, vier von ihnen Taub, drei hörend. Sie habe den Beteiligten völlige Freiheit gelassen, sagt Franziska Winkler, anders als vor zwei Jahren, als sie zum ersten Mal Taube und hörende KünstlerInnen zusammenbrachte. Damals habe sie klare Übersetzungsaufgaben gestellt, es diesmal aber spannender gefunden, zu sehen, was passiert, wenn Vorgaben ausblieben. – Und tatsächlich sind die präsentierten Ergebnisse sehr unterschiedlich.
Die KünstlerInnen haben in kleinen Gruppen zu zweit oder zu dritt ihre Performances erarbeitet. Laura-Levita Valyte zeigt, untermalt und verstärkt von den ins Mark gehenden elektronischen Sounds, die Tim Schwerdter dazu kreiert hat, ein ausdrucksstarkes Soloprogramm, das zwischen Gebärdenerzählung, Fingertheater und Tanz zu changieren scheint. Was dabei passiert, ist sehr ästhetisch und enorm ereignisreich; aber worin die Ereignisse genau bestehen, ist schwer zu sagen für eine Person, die keine Gebärdensprache beherrscht.
Die Übergänge zwischen Gebärden, die klare Bedeutungen tragen, solchen, die daraus poetische Bewegungszusammenhänge entwickeln, und dann wahrscheinlich auch noch ganz abstrakten Bewegungsmustern, sind kaum zu erkennen – selbst dann, wenn gleichzeitig Wörter an die Wand projiziert werden. Etwas deutlicher wird der Zusammenhang zwischen Wörtern und Gebärden/Bewegungen bei der Darbietung von Dana Cermane und Jonathan Savkin, die unter großem physischem Einsatz ein erotisch aufgeladenes Lautgedicht von Anna Hetzer performen.
Im Vergleich dazu scheint die Performance eines weiteren Duos, zu dem sich die hörende Tabea Xenia Magyar und der Taube Jan Kress zusammengetan haben, deutlich abstrakter in Richtung Tanz gedacht zu sein. – Allerdings gibt Franziska Winkler im Gespräch deutlich zu erkennen, dass der Begriff „Tanz“ im Deafhood-Kontext nicht wirklich passe: es handele sich um „Gebärdenpoesie“.
Wie und wo genau die Trennlinie zu ziehen wäre, diese Frage wird beim anschließenden Podiumsgespräch, das in beide Richtungen gedolmetscht wird, nicht thematisiert; dafür aber sehr intensiv darüber diskutiert, inwieweit es wichtig sei, auch von hörendem Publikum verstanden zu werden. Im Laufe des Workshops, erklären die Beteiligten einigermaßen übereinstimmend, seien sie zu der Auffassung gekommen, dass das gar nicht unbedingt sein müsse. Wichtiger sei es, dass mehr Taube PerformerInnen auf die Bühnen kommen – und zwar mit ihren eigenen Ausdrucksmitteln und ihrer eigenen Kunst.
Und Dana Cermane, die Jüngste in der Runde, die sich als Bloggerin und Aktivistin sehr für die gesellschaftliche Teilhabe Tauber Menschen einsetzt, nutzt abschließend das Podium, um eine gute Idee öffentlich zu machen: Ebenso wie es für Hörende Musikunterricht gebe, solle man an Gehörlosenschulen Performanceunterricht erteilen. Es habe lange gedauert, bis die Gebärdensprache wirklich als Sprache gesellschaftlich anerkannt worden sei. Dieselbe Entwicklung müsse nun auch im künstlerischen Bereich folgen.
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