Überraschungsteam SC Freiburg: Barcelona für Arme
Christian Streich steht mit dem SC Freiburg auf Platz 5 in der Liga und am Mittwochabend im Pokalhalbfinale. Er selbst ist Trainer des Jahres.
FREIBURG taz | Einmal fuhr der Trainer des SC Freiburg mit seinem Fahrrad durch den Kaiserstuhl. Da stand ein ihm unbekanntes Winzerpaar an der Straße, und der Winzer rief: „Guten Tag, Herr Streich.“ Sagte er: „Guten Tag.“ Sagte der Winzer zu seiner Frau: „Hasch gsehen?“ Sagte die Frau: „Ha ja, unser Trainer.“
Unser Trainer fährt mit seinem Fahrrad vorbei. Nix Besonderes, eher etwas Normales. Christian Streich, 47, sitzt auf einem Barhocker im Geschäftsstellenbereich und trägt den üblichen Sweater, als er das erzählt, Blick auf den Stadionrasen. Am Horizont der Schwarzwald.
Streich ist von den Medien ja längst unter „kauzig“ und „verrückt“ einsortiert worden, weil er keine Branchenfloskeln von sich gibt und seine Gefühle am Spielfeldrand nicht immer unterdrückt. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er eher in einem derart unkauzigen und ganz und gar nicht verrückten Moment wie im Kaiserstuhl ganz bei sich ist.
Es kommt einem vor, als sei er schon ewig Freiburgs Trainer. Dabei übernahm er den Cheftrainer-Posten erst vor etwas über 15 Monaten. Damals war der Sport-Club Tabellenletzter. Streich rettete ihn erst vorm Abstieg aus der Bundesliga und liegt nun fünf Spieltage vor Saisonende auf Rang 5. Ein Punkt mehr und der SC könnte sich womöglich für die Champions League qualifizieren. An diesem Mittwoch steht der SC auch noch zum ersten Mal seit Vereinsgründung im Halbfinale des DFB-Pokals (20.30 Uhr, ARD, Livestream) und könnte es mit einem Sieg beim VfB Stuttgart nach Berlin schaffen.
Einerseits-andererseits-Situation
Das ist grandios, und doch wirkte Streich zuletzt etwas melancholisch. Was an der Einerseits-andererseits-Situation liegen könnte. Einerseits hat er die zwischenzeitlich blass gewordene Freiburger Fußballkultur zu einem neuen Hoch entwickelt. Andererseits kann er damit die Gesetze des Fußballs nicht aushebeln: Gute Spieler werden einfach mit höheren Gehältern weggelockt. Max Kruse, Prototyp des modernen Stürmers, wird den SC Richtung Mönchengladbach verlassen, Jan Rosenthal geht nach Frankfurt, und auch der Tempodribbler Daniel Caligiuri ist auf dem Sprung nach Wolfsburg.
Wenn ein Club mal außergewöhnlich gut ist, werden ihm von den Reicheren umgehend die Spieler weggenommen. „Das ärgert mich“, seufzte Streich unlängst. Aber was soll er machen? Er setzt Wertschätzung gegen mehr Geld, aber wenn das nicht mehr reicht, dann ist Schluss, denn: „Noch mehr wohlfühlen als bei uns geht nicht.“
Den SC muss man sich nicht völlig verklärt als Club vorstellen, der seit Jahren Innovation, Harmonie und eine wunderbar alternative Unternehmenskultur lebt. Immer wieder mal sehnten sich Fraktionen genervt nach „Normalität“. Mit Streich als Frontmann erschien der SC erstmals seit der Trennung vom Übervater Volker Finke und dem Tod des langjährigen Präsidenten Achim Stocker zumindest nach außen wieder vollständig mit sich im Reinen.
Das liegt nicht daran, dass Streich mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, obwohl er die dreihundert Meter auch mit einem Porsche fahren könnte. Es liegt daran, dass er dem Club und der ganzen Stadt klargemacht hat, worin das Besondere besteht. Es ist nicht nur, dass der gern benutzte Begriff Ausbildungsverein hier mit zehn selbst gemachten Profis so radikal umgesetzt wird wie sonst nirgends.
„La Mösle“ und „La Masia“
Der SC bildet in seiner Fußballschule am Möslestadion auch seine eigenen Trainer aus. „La Mösle“ ist sicher nicht gleich „La Masia“, Barcelonas legendäre Ausbildungszentrale, aber die Kompetenz, die man in der von Jochen Saier geleiteten Fußballschule angesammelt hat und weitergibt, ist beachtlich und vor allem: Sie wird wertgeschätzt. Freiburg vertraut seinem eigenen Know-how – und wirtschaftet seriös.
Das symbolisiert Streich und das lebt Streich, der über ein Jahrzehnt Leiter der Schule war und viele Jahre A-Jugend-Trainer. Das ist immer noch ungewöhnlich in einer Branche, in der andere ihren Club im Jahrestakt einem jeweils neuen Trainer und dessen Vorstellungen komplett ausliefern. Streich hat Freiburg seinen Fußball zurückgegeben, der mit Robin Dutt doch etwas Flugball-lastiger geworden war und auch Star-fixierter. Als erste Amtshandlung verkaufte Streich den Topstürmer Papiss Cisse, bis dahin Torgarantie des SC.
Man glaubte Streichs Argumentation damals nicht, aber er sollte recht behalten, dass es auch ohne Cisse geht. So hat er der Freiburger Fußball aus der Finke-Zeit weiterentwickelt: Streichs SC ist ein moderner, flachhierarchischer Verbund von relativ unprätentiösen Multifunktionsprofis, der nicht nur kollektiv mit schnellem Kurzpassspiel angreift, sondern auch verteidigt, und das so stabil wie eigentlich noch nie. Barcelona für Arme.
Es ist sicher ein interessanter Widerspruch, dass sich Streich selbst permanent den medialen Übertreibungen der Bedeutung von Fußball widersetzt und gleichzeitig zu der Trainergeneration der Klopps und Tuchels gehört, die vermutlich 24 Stunden am Tag mit der Perfektionierung ihres Teams beschäftigt sind. Dass solche Leute am Spielfeldrand den Druck loswerden müssen, etwa gegenüber Schiedsrichtern, ist nicht „verrückt“, sondern logisch.
Der nächste Superlativ
Alles, was sie nicht beeinflussen können, entlastet sie nicht, sondern ist schwer auszuhalten. Das könnte auch für die anstehenden Kaderveränderungen gelten, auch wenn das rational gesehen genauso Teil des Freiburger Modells ist wie der nächste Abstieg. Selbst ohne Pokalfinale und Europa League wird die nächste Saison einen Superlativ bringen: Es ist die fünfte hintereinander in der Bundesliga. Das schaffte der SC Freiburg noch nie.
Das interessiert manche indes längst nicht so wie die Frage, ob Streich sich in der medialen Aufregungsmaschine Bundesliga nicht längst verändert habe, wo er doch jetzt Beckenbauer duzen darf. „Ich war beim Augenoptiker, weil ich mit dem Lesen Probleme kriege“, sagt er auf diese Frage mit seinem ernsten, aber letztlich überaus sanften Blick. „Als ich schon wieder an der Tür war, rief die Frau hinter mir her: ’Um Gottes willen, ich habe Sie gar nicht erkannt, Herr Streich.‘ Sagte ich: ’Ich sie auch nicht.‘“
Was soll uns das jetzt sagen? „Dass es null Bedeutung hat, wenn die Frau mich nicht erkennt“, sagt Christian Streich. „Eine Bedeutung hätte es erst, wenn ich sagen würde: Ja, sag mal, die erkennt mich ja gar nicht.“ Und? „Da passe ich auf.“
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