Über die Neigung zu Gier: Genug oder doch lieber mehr?
Auf dem Weg zum glücklichen Menschen muss sich der Mensch schon auch fragen, was er eigentlich von Besitz hält. Der Ethikrat macht da zwei Angebote.
K ürzlich ging ich nach einem Seminar über die polarisierende Wirkung der Medien nach Hause, als ich neben der Kirche zwei Gartenlauben sah. Neben der linken stand ein Schild „Mehr davon“ und neben der rechten „Das ist genug“.
Durch die geöffneten Türen sah ich die Mitglieder des Ethikrats, die an einem kleinen Tisch saßen und wie Karussellbetreiber aussahen, die auf Kundschaft warten. Der Ethikrat, das sind drei Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Ich suchte nach dem Ratsvorsitzenden und fand ihn hinter den Lauben, wo er versuchte einen klapprigen Leierkasten in Gang zu bringen. „Hallo, Frau Gräff“, sagte er desinteressiert. „Guten Tag“, sagte ich, „was bedeuten die Schilder dort drüben, und wozu brauchen Sie den Leierkasten?“
„Der Leierkasten“, sagte der Ratsvorsitzende, „soll die Leute anlocken, und die Schilder sind selbstverständlich Teil einer Feldforschung zum Thema Gier.“ „Selbstverständlich“, sagte ich, während der Vorsitzende ärgerlich an der Kurbel des Leierkastens zog. „Und was bedeuten sie?“ „Sie repräsentieren zwei Grundhaltungen zum Thema Besitz“, sagte der Vorsitzende, „und die Leute sind eingeladen, sich durch das Betreten der Häuser einer zuzuordnen.“
„Gier ist für eine wissenschaftliche Arbeit ja ein eher wertender Begriff“, sagte ich, während der Vorsitzende so heftig an der Kurbel riss, dass sie abfiel. „Wir könnten es auch bedürfnisentkoppelten Konsum nennen“, sagte der Vorsitzende zornig. „Aber meine Kollegen und ich sind zu dem Schluss gekommen, dass die heutigen Zeiten eine engagiertere Form der Forschung verlangen.“ „Hm“, sagte ich, es schien ein weites Feld.
„Ich habe einmal ein Buch gelesen, in dem die Sesshaftwerdung sozusagen der Sündenfall war, ab dem die Menschen Besitz wichtig fanden. Es wurde aber nicht wirklich klar, ob es unvermeidlich war oder nicht. Und heute schreiben Essayisten Texte darüber, dass die Leute mit Konsum innere Leere füllen wollen, und recherchieren dann nach einem neuen Design-Rad für sich. Was sagt denn die Philosophie?“
„Laut Epiktet liegt der Weg zum glücklichen Menschen darin, sich unabhängig von Besitz zu machen“, sagte der Ratsvorsitzende. „Hat Seneca das nicht auch gesagt und dann, weil er selbst so viel besaß, argumentiert, dass man viel haben könne, solange man auch ohne froh sein könne?“ „Das stimmt“, sagte der Vorsitzende unfroh, „aber wer sagt, dass man Seneca folgen sollte?“
Es machte keine Freude, der engagierten Forschung zu widersprechen, deshalb bot ich stattdessen an, den Leierkasten zu reparieren. Die Kurbel hielt nur mäßig gut, aber der Vorsitzende konnte damit zwei Strophen „Oh, du lieber Augustin“ am Stück spielen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Wir näherten uns damit den beiden Holzhäusern, vor dem „Mehr davon“ stand eine sehr kurze und vor dem „Es ist genug“ eine sehr lange Schlange. „Oha“, sagte der Ratsvorsitzende erfreut, „das hätte ich in dieser Klarheit nicht erwartet.“ Aber als wir dichter an die Schlange kamen, drehte sich ein sehr kurz geschorener Mann zu uns um. „Es ist wichtig, zu sehen, dass wir viele sind“, sagte er und nickte dem Vorsitzenden zu. Der Vorsitzende wich zurück. „Sie haben die Versuchsanordnung missverstanden“, sagte er. „Und worauf gründen Sie Ihre Annahme, dass Sie viele sind?“, aber er wartete die Antwort nicht ab, sondern ging hinüber zur anderen Schlange.
Dort stand ein Hippie mit einem räudigen Hund. „Und Sie?“, sagte der Vorsitzende, „was führt Sie hierher?“ „Ich stehe hier aus einer grundsätzlichen Position der Bejahung“, sagte der Hippie. Der Ratsvorsitzende tätschelte seinen Arm, und ich, die ich nicht zur Rührseligkeit neige, glaubte, ihn weinen zu sehen.
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