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Über das MäßigungsprinzipUnd die angemessene Antwort …

Wenn ein Ausflug eher einer Flucht gleicht. Unsere Autorin würde sich am liebsten mit nichts weiter beschäftigen. Muss es aber doch irgendwie tun.

Aber dann verlor der Ethiktat das Interesse und entfernte sich in Richtung des Popcornstands … Foto: dpa/Caroline Seidel

K ürzlich sah ich im Kino einen Film, der sehr schön den Tod meiner Branche beschreibt, zumindest des Teils, der papiern und glamourös ist. Das Kino ist in eine ehemalige Schiffsschraubenfabrik hin­ein­gebaut, und während ich die alten Schienen entlangging, dachte ich, dass all dies Trübe schlüssig war. Da hörte ich den Ethikrat meinen Namen rufen. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Sachen praktischer Ethik geben.

Ich tat so, als hätte ich den Ruf nicht gehört, aber der Ratsvorsitzende nahm darauf keine Rücksicht. „Guten Abend“, sagte er aufgeräumt, „machen Sie einen Ausflug in die Welt des Films?“. „Ja“, sagte ich lahm, denn es war eher eine Flucht als ein Ausflug. „Und Sie?“

„Wir haben uns mit dem jüngsten Agentenfilm vertraut gemacht“, sagte der Ratsvorsitzende, „schließlich sind auch wir in einem Alter, wo wir uns mit dem Abschiednehmen befassen.“ Ich schwieg. Die beiden anderen Ratsmitglieder betrachteten mich interessiert, als sei ich eines der Bond-Fahrzeuge, das bald Flossen ausfahren würde, aber dann verloren sie das Interesse und entfernten sich in Richtung des Popcornstands. „Womit beschäftigen Sie sich derzeit?“, fragte der Vorsitzende und betrachtete mich forschend.

Der Brief war weniger eine ausgestreckte Hand als eine Polemik gewesen

Ich stockte. Die ehrliche Antwort wäre gewesen, dass ich versuchte, mich mit nichts zu beschäftigen, weil ich das Ergebnis fürchtete. Aber da fiel mir ein Leserinnenbrief in meinem Posteingang ein. „Ich frage mich, ob jeder Brief eine Antwort verdient“, sagte ich. „In gewisser Weise ist er ja wie eine ausgestreckte Hand, die man ergreifen sollte.“

Tatsächlich war der Brief weniger eine ausgestreckte Hand als eine Polemik über die Unzulänglichkeit meines Charakters gewesen, genauer meiner Arroganz, und ein Verweis auf die vorbildliche Haltung der Schreiberin.

Das alttestamentarische Mäßigungsprinzip

„Ich habe einen Monat darüber nachgedacht, ob ich den Brief beantworten solle“, sagte ich. „Theoretisch, weil hier jemand eine Birne von meinem Obststand gekauft hat und sie reklamiert. Praktisch, weil mich jemand anpöbelt. Wäre es souveräner zu schweigen?“ Im Hintergrund begannen die beiden Ratsmitglieder die Plakataufsteller zu verschieben, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass sie den Anschlag auf Bond auf einem italienischen Friedhof nachstellten. Der Ratsvorsitzende betrachtete sie wohlwollend.

„Sicherlich ist Ihnen das alttestamentarische Mäßigungsprinzip ‚Auge um Auge‘ geläufig“, begann er, während die Ratsmitglieder Plastikgewehre zogen, aus denen sie weiße Kugeln feuerten. Ein Irrläufer streifte den Popcornstand. Die Kinoaufseherin erhob sich.

„Entschuldigen Sie mich“, sagte der Vorsitzende. Ich folgte ihm, aber dann traf mich eine Kugel. Als ich mich danach bückte, sah ich, dass sie beschrieben war. „An den Ethikrat“, las ich und faltete sie auseinander. „Hiermit kündige ich mein Abonnement ‚Der philosophische Hausbesuch‘ zugunsten einer Potenzialanalyse bei einem jüngeren Anbieter. Ich rechne mit Ihrem Verständnis.“ Ich sah auf und begegnete dem Blick des Ratsvorsitzenden. Er lächelte.

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Friederike Gräff
Redakteurin taz nord
Ausgebildet an der Deutschen Journalistenschule. Interessiert sich dafür, was Menschen antreibt, sei es in Gerichtsprozessen oder in langen Interviews. Hat ein Sachbuch übers Warten geschrieben, "Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands", Chr.Links Verlag und eines übers Schlafen "Schlaf. 100 Seiten", Reclam. Im Februar 2025 erscheint ihr Erzählband "Frau Zilius legte ihr erstes Ei an einem Donnerstag" bei Schöffling.
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