Über das Konzept der Augenhöhe: Falsche Gefälligkeit
Darf man Hilfsangebote überlasteter Mütter annehmen? Der Ethikrat interessiert sich mehr für autoritäre Hundehalter*innen.
K ürzlich stritt ich mit meinem Freund, weil er die Betreuung unserer Kinder einer befreundeten Kita-Mutter angehängt hatte, die ohnehin zu viel um die Ohren hat. „Sie hat es angeboten“, sagte er. „Natürlich bietet sie es an“, sagte ich, „weil sie hilfsbereit sein will. Aber gleichzeitig will ihr Arzt sie zur Kur schicken, weil alles zu viel für sie ist.“ Wir schieden unversöhnt, ich ging einmal um den Block, um nicht Dinge zu sagen, die ich danach bereuen würde.
An der Hundewiese stieß ich auf den Ethikrat, der einen mageren, lohfarbenen Hund mit sich führte. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Fragen praktischer Ethik geben. „Guten Tag“, sagte ich, „haben Sie sich einen Hund angeschafft?“ – „Nein“, sagte der Ratsvorsitzende, „wir haben ihn vom Dekan der Philosophischen Fakultät ausgeliehen. Es ist ein Pharaonenhund und er bedeutet dem Dekan viel.“
Er tätschelte den Hund, der sich gelangweilt abwandte. „Wir versprechen uns von ihm leichteren Kontakt zu Gesprächspartnern für unsere Studie.“ – „Welche Studie?“, fragte ich, denn die letzte schien der Rat nicht vollendet zu haben. „Wir forschen zur Mensch-Tier-Beziehung im Spiegel der Autoritätskonzepte ihrer Halter“, sagte der Vorsitzende, während er den Hund von der Leine ließ. „Womit beschäftigen Sie sich derzeit?“
„Ich forsche zum Konzept der Augenhöhe in menschlichen Beziehungen“, sagte ich, um meinen häuslichen Querelen eine gewisse Würde zu geben. „Genauer: Muss oder darf man gelegentlich Menschen vor sich selbst in Schutz nehmen oder missachtet das ihre Autonomie?“ In diesem Moment öffnete ein kompakter Mann in Bomberjacke das Tor zur Hundewiese und zog einen Pekinesen in einem goldfarbenen Cape hinter sich her. Ich beeilte mich, meine Frage interessanter zu gestalten.
Frauen werden zur Gefälligkeit erzogen
„Ich meine, natürlich muss jeder und jede für sich sorgen. Aber solange Frauen dazu sozialisiert werden, möglichst gefällig zu sein, fahren vor allem Männer gut mit diesem Augenhöhe-Konzept.“ – „Sind Sie sicher, dass dieser Konflikt entlang der Geschlechterlinien verläuft?“, antwortete der Vorsitzende zerstreut, während sich die beiden Ratsmitglieder mit Notizblock und Stift dem Mann in der Bomberjacke näherten. „Was bedeutete Ihnen der Begriff Qualzucht?“, fragte einer, während der andere den knurrenden Pekinesen fotografierte.
„Natürlich sind die Grenzen zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit fließend“, sagte ich und erinnerte mich an die Versuche, meiner Mutter eine Untermieterin anzudrehen, damit sie nicht mehr allein im Haus wohnte. Kürzlich hatte sich meine Friseurin geweigert, mir die Haare zu färben, weil sie es, wenn ich es richtig verstanden hatte, für verlorene Liebesmüh hielt.
Ich war hin und her gerissen zwischen dem Respekt davor, dass sie aus Überzeugung aufs Geld verzichtete und dem Unmut, dass hier andere über meine optische Neuerfindung entschieden. „War es konsequent oder übergriffig?“, fragte ich den Ratsvorsitzenden, aber der hatte sich längst dem Pekingesen-Besitzer zugewandt.
Zu wenig Existenz, zu wenig Farbe
„Was für ein netter Hund“, sagte er. „Sicher ist der Umhang eine Reverenz an seine kaiserlichen Ursprünge.“ – „Nun ja“, sagte der Bomberjackenmann, „wenn Sie mich so fragen: ja. Und sehen Sie hier“, und er zog dem widerstrebenden Pekingesen das Cape aus: „Hier habe ich den Stammbaum einsticken lassen.“ Tatsächlich war in dunkelgrünem Garn „Peanut & Murphy“, „Nipper & Bonsai“ zu entziffern. „Tradition bedeutet Ihnen viel“, sagte der Ratsvorsitzende leutselig, und es schien, als existierte ich nicht.
Vielleicht war es in der Gesamtschau zu wenig Existenz und zu wenig Farbe für mein Haar, jedenfalls sah ich mich gezwungen, unauffällig den Pharaonenhund an mich zu nehmen, der noch immer gelangweilt am Eingang saß, und ebenso unauffällig zu gehen, in der Hoffnung, dass der Zorn des Dekans erheblich sein würde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste