US-Autor William T. Vollmann: „Ich mache, was ich will“

Der US-Schriftsteller und Sozialkritiker William T. Vollmann begab sich unter Gotteskrieger und arme Leute. Ein taz-Gespräch zu seinem 60. Geburtstag.

Ein Mensch zwischen zwei Güterwaggons

„Niemand kann Armut beseitigen“ – Zug an der Grenze zwischen den USA und Mexiko Foto: reuters

taz am wochenende: Herr Vollmann, in „Hobo Blues“, Ihrer Reportage über Güterzug fahrende Wanderarbeiter in den USA, erwähnen Sie deren Ausdruck, „to take the train out west“. „Den Zug nach Westen nehmen“ ist Hoboslang für Sterben. Was bedeutet Ihnen der Westen?

William T. Vollmann: Wissen Sie, für uns Kalifornier bedeutet Westen ja das Ende der Frontier. Offiziell wurde die Frontier um das Jahr 1900 für geschlossen erklärt. Die Besiedelungsgrenze war da bereits erreicht. Obwohl sie als gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Dynamo längst Geschichte ist, tun wir immer noch so, als gäbe es diese Frontiermentalität noch.

In Ihrer Kurzgeschichten-Sammlung „The Butterfly Stories“ taucht in einer Shortstory „der Junge, der Journalist werden möchte“ auf. Warum haben Sie überhaupt zu schreiben begonnen?

Als Kind war ich schüchtern, hatte keine Freunde. Wegen einer Sehschwäche konnte ich keinen Sport treiben, was in Los Angeles, wo ich aufgewachsen bin, sehr angesagt war. Deshalb habe ich mich zurückgezogen und in den Büchern gelebt, die ich gelesen habe. Und diese Geschichten kamen mir so realistisch vor, dass ich mich dazu entschieden habe, selbst welche zu schreiben. Für mich sind fiktionale Storys mindestens so lebendig wie die Realität.

Können Sie mir bitte den Unterschied zwischen Ihren journalistischen Arbeiten und Ihrer Prosa erklären? Sind das für Sie unterschiedliche Felder?

Durchaus. Wenn ich einen Roman schreibe, erlaube ich mir die wahren Hintergründe zu ändern, damit der Plot symbolhafter wird, kompletter und im Sound schöner. Wenn ich Non-Fiction schreibe, ist die Realität essentiell. Sie ist dann wichtiger als eine gute Story! Und eine wahre Geschichte ist nicht immer eine gute Geschichte. Sie ist nie komplett, manchmal ist sie auch ein bisschen langweilig. Die langweiligen Stellen gestatte ich mir auch mal, wegzulassen, aber ich verändere sie grundsätzlich nicht.

Für die Recherche zu Ihren Geschichten nehmen Sie große Anstrengungen auf sich und setzen sich erheblichen Gefahren aus. Sie springen auf fahrende Güterzüge und von diesen herunter. Warum tun Sie sich das an?

Nun ja, wir müssen alle irgendwann sterben, und die meisten Menschen sterben einfach so. Ich würde gern für einen guten Grund sterben. Bei dem, was ich mache, versuche ich trotz aller Gefahren, vorsichtig zu sein, um Risiken zu minimieren. Aber ich mache eben das, was ich will, und dadurch bin ich auch vorne dran. Wenn ich in ein Kriegsgebiet reise, dann gehe ich da mit voller Absicht hin, und falls ich sterbe, dann aus gutem Grund.

geboren 1959 in Los Angeles, Kalifornien. Lebt heute in Sacramento an der US-Westküste. Der Autor von mehr als 20 Romanen und Reportagebänden wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2005 mit dem National Book Award. In seinem Werk ergänzen und verdichten sich Prosa, Sozialreportage, philosophische Betrachtungen und historische Fakten zu einem magischen Erzählstrom.

Auf Deutsch erschienen sind: „Afghan Picture Show oder Wie ich lernte, die Welt zu retten“ (2003), „Hobo Blues. Ein amerikanisches Nachtbild“ (2009), „Europe Central“ (2013) und zuletzt „Arme Leute. Reportagen“ (2018).

Was ist Ihrer Meinung nach die Essenz der Vereinigten Staaten?

Das ist etwas, wonach ich vergeblich suche. Ich kann nicht mal bestimmen, was Amerika an einem bestimmten Zeitpunkt ist. Ich weiß, dass die Realität viel größer ist als meine bescheidene Existenz. Von daher, was auch immer es ist, wonach ich suche, Amerika, Deutschland, Freiheit oder Prostitution, es ist möglicherweise unendlich. Aber ich bin nur endlich, und deshalb kann ich mich glücklich schätzen, das mir nie die Abenteuer ausgehen, mein Jagdfieber, meine Entdeckerlust weitergehen.

In „Afghanistan Picture Show“, dem ersten Buch von Ihnen, das ins Deutsche übersetzt wurde, haben Sie im Vorwort Ihre Leser um Geduld gebeten mit den Amerikanern. Was würden Sie heute schreiben?

Ich würde meine Leser bitten, dass sie die USA boykottieren und sanktionieren, bis diese endlich offiziell den Klimawandel als ernsthafte Gefahr anerkennt. Und ich würde schreiben, dass die Leugner des Klimawandels diejenigen sind, die bei den Großkonzernen am Tropf hängen. Also lasst uns ihren Profit beschneiden, bis sie endlich akzeptieren, dass es profitabler ist, Klimawandel zuzugeben, als seine Existenz zu leugnen!

Zuletzt wurde Ihr Reportageband „Arme Leute“ ins Deutsche übersetzt. Zu Recherchezwecken haben Sie dafür wieder Afghanistan bereist, sind nach Madagaskar, nach Thailand gefahren und haben Menschen in prekären Lebensumständen gesprochen, die unter erbärmlichen Umständen leben, obdachlos sind, unter dem Einfluss von gravierender Umweltverschmutzung erkranken …

Weltweit ist der Analphabetismus zurückgegangen, die Gesundheitsversorgung ist besser als noch vor zwanzig Jahren. Ich habe „Arme Leute“ auch nicht als Zustandsbeschreibung oder Armutsbericht der Gegenwart angelegt. Ich schreibe darin über Armut als eine Form von Identität, und deshalb wird es länger gültig sein. Niemand kann Armut beseitigen. Nicht Sie, nicht ich, keine Regierung, nicht mal die UN. Aber wir können über die menschliche Existenz nachdenken, über uns und unsere Mitmenschen, das ist eine bescheidene Aufgabe, das ist liebenswürdiger.

Es droht immer Gefahr, dass dabei eine Form von Voyeurismus entsteht.

Natürlich, aber wenn ich Fremde frage, mir Auskunft über sich zu geben, dann aus dem Grund, weil sie die ExpertInnen ihres Lebens sind. Selbstverständlich ist es möglich, dass mir dabei ein Fehler unterläuft. Ich könnte kaltherzig wirken. Aber ich tue alles, um glaubwürdig zu sein. Zuzuhören, von anderen etwas zu lernen. Sind Sie arm?

Nein, meine Eltern sind beide Akademiker, ich profitiere von ihrem Wohlstand. In ihrer Jugend waren beide Bafög-Empfänger, sie kommen aus einfachen Verhältnissen und wurden bei ihrer Ausbildung vom Staat gefördert. Aus welchen Verhältnissen kommen Sie?

Mein Vater hat Wirtschaftswissenschaften studiert, er ist schon gestorben, ich mochte ihn gern. Meine Mutter hat mir immer vorgelesen. Sie hat meine Liebe zur Literatur erweckt. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Aufgewachsen bin ich in Santa Monica und in Los Angeles, da war mein Vater noch Student, und wir haben in kleinen Wohnungen gelebt. Die Eltern von meiner Mutter mochten meinen Vater nicht. Das war alles schwierig.

Als junger Mann sind Sie in den Achtzigern nach Afghanistan gereist, wie kam es dazu?

1979 habe ich Analysen und Reportagen über die sowjetische Invasion in Afghanistan gelesen. Da stand zu lesen, die Sowjets verbrennen Afghanen bei lebendigem Leibe, und ich dachte, da geschieht Unrecht, das muss ich selbst sehen, um es besser zu verstehen, ganz egal, wo das ist.

Auf die angebliche Befreiung von Sowjets und Nadschibullah-Regime folgten die Taliban, Ul­tra­religiöse geißeln Frauen und Andersdenkende im Namen des Islam.

Dass die Taliban bis heute eine Ideologie des Hässlichen verfolgen, mit Grausamkeiten aller Art, ist auf das Versagen von vielen Mächten zurückzuführen. Auch der Westen hat nicht genug dafür getan, um Afghanistan aus der Armut zu helfen. Als ich 1981 mein Studium abgeschlossen hatte, bin ich selbst dort hingereist, um den Mudschaheddin zu helfen. In den USA hat sich niemand um das Land gekümmert. Nach der Rückkehr nach Kalifornien war ich dann selbst abgebrannt und musste irgendwie überleben.

Hatten Sie es mit Ihrer Ambition Schriftsteller zu werden leicht?

Als ich ernsthaft zu schreiben begonnen habe, hatte ich tagsüber als Aushilfe bei einer Versicherungsgesellschaft gearbeitet, mich von Schokoriegeln ernährt und zeitweilig unter dem Schreibtisch im Büro übernachtet.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

In „Arme Leute“ zitieren Sie Karl Marx, um die Ursprünge von Armut anschaulich zu erklären. Was ist an seiner Analyse zeitgemäß?

Sein Mitgefühl für das Leid der Industriearbeiter und deren Ausbeutung. Auch seine Beschreibung des brutalen Kapitalismus des 19.Jahrhunderts ist nach wie vor treffend. Ich denke, Marx ist sehr klar in der Kritik von Missständen. Die Diktatur des Proletariats ist aber leider keine Lösung dieser Probleme. Und ich glaube auch nicht, dass die Arbeiterklasse progressiver ist als irgendeine andere gesellschaftliche Klasse. Ich bin da mit dem russischen Linken Victor Serge einer Meinung, der gesagt hat, als sich der sowjetische Marxismus von der Demokratie abgewendet hat und von der Toleranz für Andersdenkende, wurde er fragwürdig. Eine marxistische Lösung für die marxistische Kritik gibt es bis heute nicht. Wenngleich die Idee eines gemäßigten Sozialismus meiner Meinung nach der Welt gut täte. Ersichtlich an den USA, wo die kapitalistischen Widersprüche immer schärfer werden.

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