US-Abzug aus Afghanistan: Ein Schritt zurück, ein Sprung vor
Im Zuge der Afghanistanpolitik sprechen viele vom Ende der US-Hegemonie. Dabei haben die USA mit jedem verlorenen Krieg ihren Einfluss erweitert.
Seit dem Einmarsch der Taliban in Kabul Mitte August konnte man dem Vergleich nicht mehr entkommen: Auf allen Kanälen wurde das, was in Afghanistan geschieht, mit den Bildern von Saigon vom 30. April 1975 parallel gesetzt. Beide Male landeten Hubschrauber, um das Personal der US-Botschaft evakuieren.
Was wir bei diesem Vergleich allerdings vermissen, ist, dass Kabul und Saigon nicht als Ende der Geschichte angesehen werden, sondern als – gewiss hochdramatische – Ereignisse, die neue Entwicklungen nach sich ziehen.
Damals in den 1970ern schien der panische Helikopterabflug von Saigon der letzte Sargnagel zu sein im globalen amerikanischen Herrschaftsanspruch, das zentrale Symbol für einen unmittelbar bevorstehenden und irreversiblen Machtverfall.
Saigon stand für das Ende eines Krieges, der für die USA viel teurer und blutiger war als die Intervention in Afghanistan. In Vietnam waren 536.000 GIs im Einsatz, in Afghanistan 95.000 (plus knapp 8.000 Söldner privater Sicherheitsfirmen); in Afghanistan starben 2.400 US-Soldaten (plus 3.800 Söldner), in Vietnam fast 60.000.
Aber nicht nur diese Zahlen markieren den Unterschied: Die USA hatten in den 1970er Jahren ein Jahrzehnt der erbitterten Proteste und politischen Morde hinter sich. Die Kosten des Krieges sorgten für ein Rekorddefizit im US-Haushalt, das 1944 eingeführte Währungssystem von Bretton-Woods brach zusammen. 1973 folgte dann noch die unerwartete und deswegen umso gravierendere erste Ölkrise.
Die USA waren der absolute Hegemon
Überall in der Welt schien die US-Herrschaft zu bröckeln. In Chile 1973 hatten die Amerikaner einen Putsch provozieren müssen, um das Land aus den Händen der Sozialisten zu „retten“. In Lissabon hatten die „Roten“ 1974 mit der „Nelkenrevolution“ tatsächlich die Macht ergriffen, die ehemaligen portugiesischen Kolonien Mosambik und Angola wandten sich der Sowjetunion zu wie auch 1976 Äthiopien; das alles nach Watergate und dem Rücktritt von Richard Nixon.
Während also Saigon fiel, steckten die USA in einer beispiellosen institutionellen und ökonomischen Krise, der Einfluss der Sowjetunion schien sich ungebremst auszuweiten. Nur 16 Jahre später, 1991, existierte aber ebendiese Sowjetunion nicht mehr. Japan, das während der 1980er Jahre in für die Jungen heute gar nicht mehr vorstellbarer Hysterie zum wirtschaftlichen Hauptfeind ausgerufen worden war, stagnierte. Die USA waren der absolute Hegemon und führten eine Koalition zum Sturz Sadam Husseins im Irak an.
Davon ausgehend können wir die Bilder von 1975 neu betrachten: Sie zeigen nicht die Niederlage des US-Imperiums, sondern stehen für den Beginn der Gegenoffensive. Heute scheint China von der Niederlage in Afghanistan zu profitieren, aber nach Vietnam war es eben die Sowjetunion, die als Gewinner des Kalten Krieges festzustehen schien – wir wissen heute, wie die Sache wirklich ausging. Vom Niedergang der USA höre ich seit Kindertagen, den Topos gab es aber schon lange vorher – und ich bin 1947 geboren.
Noam Chomsky lässt diesen Niedergang mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnen, als die USA China an den Kommunismus verloren haben. Aber auch 1992, nach dem Sieg im Kalten Krieg, hatten Artikel wie „Is America in Decline?“ Konjunktur. Es ist richtig, dass der Vergleich der UdSSR von 1975 mit dem des China von heute hinkt. Tatsächlich ist China im Wettbewerb der Mächte ein viel stärkerer Player.
Der Banalität entreißen
Was aber die USA so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass, je mehr Schlachten und Kriege sie verlieren, sie desto mehr wachsen und ihren Einfluss ausweiten. Seit 1945 haben die USA so gut wie jeden Krieg verloren, ihre Macht aber – finanziell, symbolisch, technologisch, sprachlich und natürlich auch militärisch und diplomatisch – ist dabei beständig gewachsen.
Zu dieser Beobachtung schrieb mir Victoria De Grazia, Historikerin an der Columbia-Universität: „Ein Schritt zurück, ein großer Sprung nach vorne. Jedes Mal, wenn die USA einen bedeutenden Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg verloren haben (Korea, Vietnam, Irak/Afghanistan), beginnt ein Umbau der amerikanischen Gesellschaft.
Nach Korea waren das Investitionen in Highways, Bildung und in das Arpanet, den militärischen Vorläufer des Internets, in den 1960ern folgte das gesellschaftliche Reformprojekt der Great Society. Die Liberalen alter Schule haben immer darauf bestanden, dass es keine amerikanische Hegemonie geben kann, ohne dass die US-Soft Power nach dem Modell des New Deal stetig aktualisiert wird.
Ebendas versucht gerade Präsident Joe Biden mit seinem milliardenschweren Infrastrukturprogramm. Globale Realpolitik ist eben nicht die einzige Perspektive, unter der man die Geschehnisse in Afghanistan betrachten kann. Es gibt in der modernen Politik kein Nullsummenspiel, nachdem alles, was die USA verlieren, automatisch China oder Russland in die Hände fällt.“
Von Marco d'Eramo ist auf Deutsch zuletzt erschienen „Die Welt im Selfie – Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters“, Suhrkamp, 2018
Wenn wir also den Vergleich Saigon/Kabul der Banalität und der Häme entreißen und produktiv machen wollen: Dann müssen wir uns damit beschäftigen, welche Art von Gegenoffensive die USA gerade planen und wie sie ihre Gesellschaft reorganisieren wollen, die heute, vielleicht noch mehr als in den 1970er Jahren, am Rande eines Bürgerkriegs zu stehen scheint.
Aus dem Italienischen von Ambros Waibel
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