UN-Expertin über Krieg im Jemen: „Niemand hier hat saubere Hände“
Alle Kriegsparteien im Jemen verüben schwere Straftaten, schreiben UN-Experten in einem neuen Bericht. Die Menschenrechtlerin Melissa Parke fordert Rechenschaft.
taz: Frau Parke, am Dienstag wird Ihr neuer Bericht zum Krieg im Jemen vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf vorgestellt. Darin sprechen Sie von einer Pandemie, Sie meinen aber nicht Corona?
Melissa Parke: Covid-19 ist verheerend, aber es gibt eine noch größere Pandemie, die den Menschen im Jemen Leid zufügt: die Straflosigkeit. Alle Konfliktparteien im Jemen verüben schwere Verletzungen der Menschenrechte und des internationalen Rechts, und zwar ohne Folgen für die Täter. Das ermutigt sie, weitere und noch schwerere Verletzungen zu begehen.
Um was für Taten geht es?
Um Luftangriffe und andere Bombardierungen, bei denen nicht unterschieden wird zwischen zivilen und militärischen Zielen. Um Landminen, willkürliche Festnahmen und Verschleppungen sowie um Folter und sexuelle Gewalt. Außerdem wird eine ganze Generation ihrer Bildung beraubt, indem Kinder rekrutiert werden, um sie in Kriegshandlungen einzusetzen.
Sie sagten, alle Konfliktparteien machten sich schuldig, Jemens Regierung also ebenso wie die Huthi-Rebellen, aber auch die mit der Regierung alliierte arabische Militärkoalition sowie die südjemenitischen Separatisten. Verwässert eine solche Aussage nicht wichtige Unterschiede?
Die einzigen Parteien im Jemen, die Flugzeuge am Himmel haben, sind die von Saudi-Arabien geführte Koalition sowie die Emirate. Alle Verletzungen im Rahmen von Luftangriffen gehen auf das Konto der Koalition. Landminen werden mehrheitlich von den Huthis eingesetzt und auch in Sachen Kinderrekrutierung werden die meisten Verletzungen von den Huthis begangen. Aber auch andere Parteien machen das. Alle Parteien wiederum verletzen das Recht auf Bewegungs- und Meinungsfreiheit, lassen Menschen verschwinden und begehen Folter. Es gibt keine Guten in diesem Konflikt, niemand hier hat saubere Hände.
Das Mandat Ihrer vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzten Expertengruppe umfasst das Sammeln und Analysieren von Informationen. Wie gehen Sie dabei vor?
Dieses Jahr gab es viele Herausforderungen. Wir hatten kein Zutritt zum Jemen und zu den Ländern der Koalition und mussten mit Einschränkungen durch Covid-19 arbeiten. Unsere Feldbesuche mussten wir stark begrenzen und Interviews per Video führen. Aber wir konnten im Berichtszeitraum trotzdem mehr als 400 Interviews führen. Dazu haben wir Bestätigung über Satellitenbilder eingeholt. Ein Mitarbeiter wertet außerdem Äußerungen der Konfliktparteien in sozialen Medien aus.
Melissa Parke, 54, ist Mitglied der Expertengruppe zum Jemen, die der UN-Menschenrechtsrat in Genf im Jahr 2017 eingesetzt hat. Die Juristin saß für die australische Labor-Partei im Parlament in Canberra und diente 2013 als Ministerin für Internationale Entwicklung.
Wie groß ist Ihr Team?
Ungefähr zwanzig Leute, inklusive Ermittler, Analysten, Dolmetscher und Administration. Sie haben von Beirut aus gearbeitet bis zu der Explosion (im Hafen der Stadt am 4. August), die unser Büro zerstört und einige Mitarbeiter leicht verletzt hat. Das hat unsere Arbeit weiter behindert, nachdem einige Mitarbeiter schon vor der Explosion wegen Covid umziehen mussten. Wir Experten waren auf unsere Heimatländer beschränkt, normalerweise würden wir regelmäßig nach Beirut und in die Region reisen.
In Ihrem Bericht fordern Sie erstmals, dass der UN-Sicherheitsrat den Fall Jemen an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) überweist. Mit welchem Ziel?
Es wäre ein starkes Signal: dass niemand über dem Recht steht und dass die internationale Gemeinschaft die Schwere der Verbrechen erkennt. Die aktuelle Straflosigkeit hat auch Auswirkungen auf die internationale Gemeinschaft. UN-Mitgliedstaaten fahren ihre Waffenlieferungen an Konfliktparteien hoch, trotz der vielen Beweise für schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts. Niemand – keine Konfliktpartei und kein UN-Mitglied – kann sagen, man hätte davon nichts gewusst.
Warum hat der Sicherheitsrat den Fall nicht schon in den letzten sechs Jahren nach Den Haag überwiesen?
Einige ständige Mitglieder sind involviert, in dem Sinn, dass sie Waffen liefern. Möglicherweise haben sie keinen Anreiz, den IStGH anzurufen. Aber sie müssen ihrer Pflicht nachkommen und den Fall überweisen. Die internationale Gemeinschaft muss aktiv werden, wenn wir nicht alle Blut an unseren Händen haben wollen, weil wir die Verletzungen wissentlich ignorieren.
In dem Bericht heben Sie drei Länder hervor, die ständige Sicherheitsratsmitglieder sind: Frankreich, Großbritannien und die USA.
Die Staaten, die wir erwähnen – wir haben darüber hinaus auch Kanada und den Iran benannt – haben besonders großen Einfluss auf die Konfliktparteien im Jemen. Unter internationalem Recht sind sie verpflichtet, diesen Einfluss im Sinne des humanitären Völkerrechts zu nutzen.
Allerdings liefern auch andere Staaten Waffen.
Wir haben die genannt, die die meisten verkaufen.
Deutschland findet keine Erwähnung. Hat das damit zu tun, dass die Bundesregierung Rüstungsgeschäfte mit den Saudis nach dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi gestoppt und bislang auch nicht wieder aufgenommen hat?
Deutschland unterstützt unsere Arbeit sehr. Andere Länder sollten ihre Waffenverkäufe an die Konfliktparteien ebenfalls stoppen. Als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat kann Deutschland momentan außerdem ein starker Fürsprecher dafür sein, das Thema Menschenrechte in die Arbeit des Sicherheitsrats zu integrieren. Momentan gibt es eine Art Trennung in den UN: Menschenrechte werden in Genf behandelt, Sicherheitsfragen in New York. Aber beides hängt zusammen. Ich hoffe, dass unsere Arbeit sich auch in der Agenda des Sicherheitsrats niederschlägt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands