Twitters tristes Jubiläum: Nett sein lohnt sich nicht
Der Kurznachrichtendienst Twitter wird zehn Jahre alt. Aber er kränkelt schon länger vor sich hin. Warum eigentlich?
Von Zehnjährigen erwartet man so einiges, besonders im Silicon Valley, wo eine Firma in diesem Alter bitte schön Gewinne abzuwerfen und seine Nutzer zuverlässig zu bespaßen hat. An beidem scheitert Twitter, der 140-Zeichen-Dienst mit dem blauen Vögelchen im Logo. Schwache Zuwächse bei den Nutzerzahlen, 132 Millionen Dollar Verluste im Jahr 2015 und immer wieder Querelen mit den aktiven Nutzern über Neuerungen, die der Konzern hektisch ankündigt, führen dazu, dass sich viele Artikel zum Geburtstag eher lesen wie Nachrufe.
Was den Dienst so ruiniert hat? Im Grunde hauptsächlich dies: Das soziale Netzwerk hat sich noch nicht entschieden, ein Arschloch zu sein. Statt minutiöse Profile seiner Nutzer zu bilden und zielgenaue Werbung zu verkloppen, statt alle zu zwingen, sich mit Klarnamen anzumelden und über Algorithmen vorzusortieren, was in den Timelines anzuzeigen sei, herrscht bei Twitter immer noch eine Art präpubertäre Anarchie: Wo Facebook längst gelernt hat, aus Nutzerdaten Geld zu machen, lässt man bei Twitter einfach alle mal machen. Ob aus Planlosigkeit oder gezielt gewollter Offenheit rümpelt Twitter die Timelines nicht danach aus, was man für besonders interessante Tweets hält.
Direkter, unvermarkteter – all das scheint allerdings für die User kaum ein Argument für Twitter zu sein. Während Facebook mit seiner scharf zugeschnittenen Nutzervermarktungsstrategie wächst und wächst, bleibt Twitter auf der Strecke. Die Facebook-Töchter Instagram und WhatsApp sind in den Nutzerzahlen längst an Twitter mit seinen 320 Millionen Aktiven vorbeigezogen, Snapchat bald wohl auch.
Erklärungsversuche gibt es zuhauf: Dass es auf Twitter für Neuankömmlinge einsam sei, kritisieren viele. Andere, wie der Facebook-Financier Sean Parker, glauben, dass Twitter nun auf die Füße fällt, was den Dienst einst groß machte: dass er vor allem ein Service ist, den Medien und Prominente gerne nutzen und propagierten. Mit der Folge, dass Twitter heute – anders als Facebook – eher professionelle Netzwerke abbildet als private. Journalisten, die mit anderen Journalisten diskutieren, Politiker, die sich austauschen, Lobbyisten und PR-Accounts, die ihre Talkingpoints rausschießen – das ist vor allem oft dies: selbstreferenziell und langweilig.
Die Chance verpasst
Wieder andere bemängeln, dass Twitter die Chance verpasst hat, eine Art internationale Agora zu werden. Inzwischen, schreibt der Londoner Berater Umair Haque, gleiche der Dienst eher einem „betrunkenen, wogenden Moshpit“. Was Dynamiken wie #Gamergate zur Folge hat: organisierte Mobs, die gezielt auf Einzelne losgehen – in diesem Fall auf Computerspiel-Programmiererinnen, die scharf und sexistisch angegangen wurden. Als #Gamergate 2014 auf Twitter tobte, wurde offenkundig, dass das Unternehmen kaum über Werkzeuge verfügt, um die Wogen zu glätten. Was auch gut vernetzte Twitter-Nutzer frustriert zur Abmeldung ihrer Konten treibt.
Hass und kommunikative Hatz betreffen auch Facebook und alle anderen sozialen Netzwerke. In ihren Anfangsjahren ging es darum, Plattformen zu entwickeln, die einen technisch reibungslosen Austausch von Menschen auf der ganzen Welt ermöglichte. Zunehmend sehen sich sie jedoch mit der Frage konfrontiert, wie weit sie sich aus dem, was inhaltlich auf ihren Plattformen passiert, heraushalten dürfen. Zu besichtigen ist das in Deutschland derzeit an dem Streit um Facebook und Hassposts.
Das Problem: Beginnen soziale Netzwerke, sich jenseits von prüdem Keine-Nippel-Zeigen einzumischen, stellt sich die Frage, welche Ansprüche sie morgen erwarten – etwa seitens autoritärer Staaten. Andererseits wird immer klarer: Soziale Netzwerke machen ihre Geschäfte mit sozialen Interaktionen. Was sie zu mehr macht als reinen Codefabriken – und eben auch Werte und Normen beinhaltet.
Auch jenseits dessen versucht Twitter derzeit hektisch umzusteuern. Und schielt dafür stark auf Facebooks Erfolgsrezepte. So deutete man Favoriten-Sternchen im letzten Jahr zu Herzchen um – analog zu Facebooks Like-Button. Dass der Dienst bald, ähnlich wie Facebook, zum Ordnen der Timelines auch Algorithmen ins Werk setzen will, dementierte Twitter-Chef Jack Dorsey zwar, die Gerüchte halten sich aber hartnäckig. Was fatal ist. Denn: Je enger sich Twitter an Facebook orientiert, desto unnötiger werden seine Dienste. Ein zweites Facebook braucht niemand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“