Türkische Wissenschaftler im Exil: „Kurz vor dem Kollaps“
Nach dem Putschversuch in der Türkei wurden über 6.000 Wissenschaftler entlassen. Einige konnten das Land verlassen. Rückkehr ist nicht in Sicht.
Baschkaja, der linke Autor, Ökonom und Politikwissenschaftler, ist ein hartnäckiger Verfechter der Meinungsfreiheit. 2001 nahm er dafür sogar eine Haftstrafe in Kauf. Ende Februar wurde der beinahe 80-Jährige verklagt: wegen seines Essays „Der wahre Terror ist Staatsterror“, in dem er die Strategie der Mächtigen anprangert, ihre Kritiker kurzerhand zu Terroristen zu erklären.
Genau das widerfuhr sowohl Baschkaja selbst als auch seinem ehemaligem Studenten Hakan Mertcan. Der ist einer der mehr als 2.200 Wissenschaftler, die im Januar 2016 den Friedensappell „Wir wollen nicht Teil dieses Verbrechens sein“ unterschrieben hatten. Anlass war das gewaltsame Vorgehen des Staates in den Kurdengebieten gegen die Zivilbevölkerung, unter massiven Menschenrechtsverletzungen und mit Hunderten Toten.
Mertcan war Dozent an der Universität im südtürkischen Mersin, und unter seinen rund 500 Studenten waren nicht wenige radikal-nationalistische, es gab Morddrohungen. Aus einer Familie arabischer Alewiten stammend gehört er ohnehin zu einer unterdrückten Minderheit. Sein Arbeitsvertrag wurde nicht verlängert, und der Druck nahm nach dem Putschversuch im Juli 2016 noch weiter zu. Im Frühjahr 2017 wagte er die Flucht nach Deutschland, wo er bald ein Stipendium der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte antreten konnte.
Das ist inzwischen ausgelaufen und der Jurist mit den Spezialgebieten Menschenrechte sowie Geschichte der Modernisierung und Säkularisierung in der Türkei sucht intensiv nach einem weiteren. „Ich habe keinen anderen Beruf.“ sagt er „Das ist meine Liebe, my Alles!“
Haftstrafe droht
Von 2016 an sah sich der Jurist mit gleich drei Anklagen konfrontiert. Zwar wurde er zweimal wegen an sich harmloser Facebook-Einträge freigesprochen, aber wegen der Unterzeichnung der Erklärung drohen ihm siebeneinhalb Jahre Haft. Mertcan erklärt sich die scharfe Reaktion damit, dass das Regime fürchtete, Akademiker aus der Westtürkei könnten auf den Konflikt aufmerksam werden. Insgesamt verloren rund 550 der Unterzeichner ihre Stelle, 706 wurden vor Gericht gestellt und 191 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt (Stand 3. Juli 2019).
Nachdem seit 2016 insgesamt über 6.000 Wissenschaftler per Dekret entlassen wurden, scheint nun die türkische Regierung den Aderlass ausgleichen zu wollen. Sie versucht, im Ausland arbeitende türkische Wissenschaftler mit guten Arbeitsbedingungen zur Rückkehr zu bewegen. Die AKP-nahe Zeitung Sabah meint schon einen „umgekehrten braindrain“ zu sehen und präsentiert sogar rückkehrwillige Kandidaten, von denen sich ein paar im Ausland schlecht behandelt sehen.
Es mag sein, dass einige die günstige Gelegenheit nutzen werden, so vielleicht mit einem Karrieresprung auf einem Lehrstuhl im Heimatland zu landen. Trotzdem sprechen die Zahlen von ganz anderen Prioritäten: Während für 2019 der Etat der Religionsbehörde Diyanet mit ihren gut 123.000 Mitarbeitern um 36 Prozent erhöht wurde, musste das Wissenschaftsministerium Kürzungen um 56 Prozent hinnehmen. Dabei hält sich im Schanghai-Ranking der weltweit 500 besten Universitäten einzig noch die Universität Istanbul, seit 2016 in der Wertung aber tendenziell absteigend. Der Iran mit zwei und Saudi-Arabien mit vier Universitäten schneiden weit besser ab.
Das ohnehin schwache türkische Bildungssystem ist nach Hakan Mertcan kurz vor dem Kollaps. Nach der Entlassung Tausender Wissenschaftler sei dort keine wirkliche Bildung mehr möglich. Den Hauptgrund für den Braindrain sieht Mertcan in dem repressiven Regime der Türkei. „Das akzeptiert keine wirklichen Intellektuellen mit kritischem Denken. Was man will, das sind willfährige Technokraten und muslimische Wissenschaftler. Uns würde man niemals zurückholen wollen!“
Ein großes Hindernis
Freilich habe es nie eine umfassende Säkularisierung gegeben, aber die heutige Situation sei schlimmer als zuvor. „Erdoğan hat den politischen Islam in den staatlichen Institutionen sowie die Islamverbände immer einflussreicher werden lassen.“ Das würde einmal ein großes Hindernis für eine künftige Säkularisierung und wirklichen Laizismus sein.
Die Friedenswissenschaftler werden in vielen Ländern unterstützt. In Deutschland vergibt die Philipp Schwartz-Initiative in der Alexander von Humboldt-Stiftung seit 2015 Stipendien an verfolgte Wissenschaftler. Mit 116 von insgesamt 196 kommt der Großteil aus der Türkei. Präsident Hans-Christian Pape sieht darin eine Möglichkeit, unser Wissenschaftssystem zu bereichern und, wie Geschäftsführerin Barbara Sheldon ergänzt, bringen die Geförderten neue, nichtwestliche Perspektiven in den Forschungsdiskurs ein und spezifische Kenntnisse ihrer Herkunftsregion mit. Sie können „Brückenbauer“ in die Netzwerke anderer Länder sein und sensibilisieren dafür, dass Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit nicht selbstverständlich sind.
Genau das tun sie – trotz der hohen Belastung eines Lebens in der Fremde und ihrer zerstörten Karrieren. Sie halten die Verbindung zu demokratischen Kräften in der Türkei, und im Zusammenschluss „Academics for Peace“ informieren sie die Öffentlichkeit über die Gerichtsverfahren. Geplant ist außerdem eine Konferenz „Demokratische Türkei“.
Eine Propaganda-Veranstaltung
Mit Protest reagierten sie auf eine Podiumsdiskussion des Essener „Zentrums für Türkeistudien“ zur Integration der syrischen Flüchtlinge in der Türkei durch Hochschulbildung am 13. Juni. Denn eingeladen war ausgerechnet ein Vertreter des Türkischen Hochschulrats (YÖK), der während der Säuberungen an türkischen Universitäten eine Schlüsselrolle spielte. So wichtig ein Dialog auch ist: Hier wurde wohl viel Geld ausgegeben für eine Diskussion, die keine war, sondern nach einem Bericht der FAZ nur eine „zynische Propaganda“-Veranstaltung.
Diejenigen Wissenschaftler und Studenten, die, statt wegzuschauen, Zivilcourage und Verantwortungsgefühl bewiesen haben, sitzen nun im Exil, auf der Straße oder gar im Gefängnis. Wäre die Türkei der demokratische Rechtsstaat, der sie laut Verfassung sein soll, wäre ihr Handeln ganz selbstverständlich durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Ob das reichlich verspätete Urteil des türkischen Verfassungsgerichts zum Fall Deniz Yücel, das die Anklage wegen „Terrorpropaganda“ für rechtswidrig erklärte, nun auch im Fall der Friedenswissenschaftler ein Umdenken einleitet – das ist fraglich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers