Türkisch-armenische Kurzgeschichte: Das Wiegenlied
Arev bricht das 100-jährige Schweigen über Armenien – während einer Castingshow im türkischen Fernsehen. Eine Kurzgeschichte.
„Gott, zeige mir dein Angesicht“, flehte sie und hob die Augen. Ihr Blick stieß gegen die Stahlkonstruktion an der Studiodecke, sie sah einen Haufen Kabel. Selbst wenn Gott eines Tages sein Angesicht zeigen sollte, dies war offensichtlich nicht der Moment.
Es ging unglaublich hektisch zu. Mit Stapeln von Papieren im Arm eilten junge Frauen auf hohen Absätzen hierhin und dorthin. Junge Männer mit Funkgeräten erteilten Anweisungen. Überall verliefen Kabel. Arev senkte den Blick. Auf dem Boden erblickte sie eine Ameise.
Arev. Das war der Name, den ihr die Großmutter ins Ohr geflüstert hatte. Arev bedeutete Sonne: Günes.
Geheimnis
Die Schriftstellerin lebt in Istanbul. Zuletzt erschien der Roman „Der hinkende Rhythmus" (binooki Verlag). Die Geschichte geht auf eine wahre Begebenheit zurück, die sich kürzlich im türkischen TV ereignete. - Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.
„Sprich zu niemandem davon“, hatte die Großmutter gesagt. „Das ist unser Geheimnis. Die Leute sollen dich als Günes kennen.“ Seither bewahrte sie den Namen Arev im Herzen. Dachte sie daran, beschleunigte sich ihr Herzschlag. Gleich würde man sie rufen.
Ein Zauberkünstler stand auf der Bühne. Er trieb Nägel in sein Fleisch. Nagel um Nagel versenkte er in seiner Hand.
„Autsch!“, rief der erste Juror. „Entsetzlich!“
Die Zuschauer im Studio stießen vor Verblüffung spitze Schreie aus. Unruhig rutschten sie auf ihren Plätzen hin und her. Selbst die Studiomitarbeiter ließen Arbeit Arbeit sein und wandten die Blicke dem Mann auf der Bühne zu. Jetzt zeigte der Magier die mit Nägeln übersäte Hand vor. Auf seinen Lippen lag ein zufriedenes Lächeln. Das Fernsehen übertrug die Szene ins ganze Land. Vor den Bildschirmen hielten die Leute den Atem an.
Jubel
Als der Zauberkünstler sich die Aufmerksamkeit aller gesichert hatte, schloss er bedächtig die rechte Hand zur Faust. Was musste er für Schmerzen leiden! Die Leute kreischten. Die Bildschirme zeigten die nagelgespickte Faust in Großaufnahme. Der Mann lächelte noch immer. Elegant zog er mit der linken Hand ein rotes Satin-Tüchlein aus der Tasche, legte es über die vernagelte Faust, riss es aber schon in der nächsten Sekunde wieder herunter. Die Nägel waren in eine weiße Taube verwandelt. Aufgeregt sprangen die Zuschauer auf.
„Super!“, jubelte die zweite Jurorin und ließ ihr Haar schwingen. „Fantastisch!“
„Bravo!“, rief Juror Nummer drei. „Unglaubliche Nummer!“
Die Taube drehte eine Runde durch den Saal und landete auf der Schulter des Zauberkünstlers. Mit großer Geste verbeugten sich beide. Das Publikum im Studio applaudierte begeistert. Die Jury schritt zur Abstimmung. Die Spannung stieg.
Dreimal ja. Dem Künstler hüpfte das Herz vor Freude. Nun war sicher, dass er im Finale dabei sein würde. Er sprang von der Bühne, umarmte seine Mutter, die ihn in den Kulissen erwartete, und weinte wie ein Kind. Der Zauber war gebrochen!
Nicht weinen
„Du darfst nicht weinen“, hatte die Großmutter zu Arev gesagt, als sie noch klein war. „Wir haben unser Leben lang genug geweint. Unsere Tränen sind versiegt. Selbst bei der Beerdigung deines Großvaters habe ich nicht eine Träne vergossen. Wenn du eines Tages weinst, dann soll es um der Liebe willen sein. Weine nur um den, den du liebst, mein Schatz.“ So sprach sie und setzte dann die alten Lippen zum Kuss auf Arevs Augen.
Ihr Leben lang hatte Arev nach einer Liebe gesucht, um deretwillen sich zu weinen gelohnt hätte. Vergebens. Vielleicht hätte sie lieben können, wenn sie ihren Namen vergaß. Das im Herzen gehütete Geheimnis war stärker als alle Möglichkeiten der Liebe. Arev brachte ihr Leben damit zu, im Dunkeln nach ihrem Weg zu tasten.
Ein Hund bellte. Applaus brandete auf. Ein seltsames Paar tanzte da gerade auf der Bühne: Ein Mann und ein Hund. Sie tanzten Tango. Lang, lang … Wiegeschritt … rück seit… beugen … wieder von vorn, drei Schritt vor … Wie hübsch! Mit seinem Hut und der auf Falte gebügelten Hose wirkte der Mann wie ein spanischer Tänzer. Der Hund steckte in einem Flamenco-Kostüm mit Stufenröckchen.
Tanz
Eine neue Melodie erklang, der Mann zog mit Schwung dem Hund das Kostüm vom Leib. Den Hut auf dem eigenen Kopf rückte er vor wie Michael Jackson. Sie tanzten zu „Billie Jean“. Der Mann legte den Moonwalk hin, der Hund tänzelte rückwärts. Im selben Rhythmus drehten sie die Köpfe nach links und rechts. Da schleuderte der Mann den Hut von sich. Nun ertönte eine orientalische Melodie. Sie führten einen Bauchtanz vor.
Die Musik verstummte. Verbeugung. Applaus … Der Mann stellte den Hund vor: Das ist Lady. Der erste Juror überschüttete Lady und ihr Herrchen mit Lob. Man fragte nach der Rasse des Hundes. Arev stellte sich vor, man richte diese Frage an sie.
Juror Nummer drei fand die Vorstellung „unbefriedigend“. Kaum hatte er das verkündet, fing das Publikum zu murren an.
Die Abstimmung lief. Der erste Juror sagte ja, der dritte nein. Das Urteil der zweiten Jurorin ließ auf sich warten. Die Musik wurde lauter, die Spannung stieg. Und … da kam das zweite Ja. Jaaa!!! Großer Applaus. Lady stand im Finale. Vielleicht würde sie sich als das größte Talent der Türkei erweisen. Fantastisch! Ein Hund! So sollte es sein!
Bauchschmerzen
Arev hatte Bauchschmerzen. Ein sonderbares Ziehen stieg ihr vom Magen zum Herzen auf. Sie hätte gern einen Schluck Wasser getrunken, war aber außerstande, aufzustehen. Sie schluckte. Auf den Fernsehbildschirmen wirkte das Studio riesig, nie hätte sie gedacht, dass es so klein war. Die Luft war stickig hier.
Die Hitze der Scheinwerfer, der Atem von ein paar hundert Menschen, der Schweiß der hektischen Mitarbeiter machten das Atmen schwer. Plötzlich fürchtete sie, ohnmächtig zu werden. Das wäre ein Skandal. Die Programmmacher liebten so etwas, und die Zuschauer auch. Wieder und wieder würde über die Bildschirme flimmern, wie die Kandidatin in Ohnmacht fiel.
Die anderen Kandidaten wirkten munter. Ein Jongleur warf unablässig bunte Bälle in die Luft und fing sie wieder auf. Ein blutjunger Kandidat, dem man Schnurrbart und starke Brauen ins Gesicht gemalt hatte, beobachtete ihn voller Bewunderung. Fuchtig zog die Mutter den Sohn beiseite und ließ ihn herunterbeten, was er auswendig gelernt hatte. Eine Sängerin gab ungelenke Töne von sich, vorgeblich, um die Stimme aufzuwecken.
Gedächtnis
Auf einmal strich Arev ein Schwall frischer Luft durchs Gesicht. Jemand hatte die Tür geöffnet. Sie warf einen Blick nach draußen. Ein Baum stand da, eine Akazie. Wie gern wäre sie durch die Tür gegangen. Hinaus und auf und davon … Einfach verschwinden!
Sie konnte nicht hinaus, sie vergrub sich wieder in sich selbst.
Ist das Gedächtnis imstande, die Grenzen des Körpers zu überwinden? Wie gibt man uneingestandene Wahrheiten weiter? Wie schwer lastet die Bürde uralter Geheimnisse auf den Schultern eines Menschen? Bleiben Sündentaten über hundert Jahre hinweg lebendig? Wer zahlt den Preis dafür?
Günes!
Günes Demirci. Arev begriff, dass sie an der Reihe war. Ein junges Mädchen trat mit Schminkutensilien zu ihr und puderte ihr hektisch das Gesicht. Dann ordnete sie ihr das Haar. Sie sah sie an, ohne ihr in die Augen zu schauen. Dann war sie schon wieder weg. Ein junger Mann legte ihr kurz die Hand auf die Schulter: „Du bist dran. Keine Panik, du kriegst das schon hin.“
Scheinwerferlicht
Der Moment freundlicher Anteilnahme tat Arev gut. Wahrscheinlich munterte der Mitarbeiter alle mit denselben Worten auf, dennoch hatten seine Worte Arev Mut gemacht. Sie stand auf und ging Richtung Bühne. Wie immer tastete sie im Dunkeln nach ihrem Weg.
In der Mitte der Bühne blieb sie stehen. Die Scheinwerfer blendeten sie. Stimmen drangen an ihr Ohr, doch Arev war nicht aufnahmefähig, sie verstand die Wörter nicht. Unwirkliche Stille herrschte im Studio. Ein Ende dieser Stille reichte einhundert Jahre zurück.
Das Lied
Arev hatte ein Lied vorbereitet. Sie wollte singen, ganz ohne Instrumentalbegleitung, nur mit der Stimme, die ihr aus dem Herzen kam. Sie versuchte sich des Textes zu entsinnen, sich die Melodie ins Gedächtnis zu rufen … Nichts. Nur Dunkel!
Da hörte sie ein Wispern aus dem Dunkeln, eine zarte, süße Stimme …
Bar bar genem, bar genem
Gaban gidrem shar genem
Es yavruyis arevun
Chift khochi khurban genem
Arev kam das Wiegenlied über die Lippen, das ihr die Großmutter ins Ohr gesummt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war.
Als das Wiegenlied verklang, öffnete sie die Augen. Sie war wieder ein kleines Mädchen. Die Juroren, das Publikum im Studio, die Zuschauer vor den Bildschirmen zu Hause, alle staunten.
Der erste Juror meinte: „Hm, interessant, welche Sprache war das?“
„Klingt nach einer Balkansprache“, überlegte die zweite Jurorin laut, „vielleicht Mazedonisch?“
Und die Sprache
Juror Nummer drei erteilte ihr eine Abfuhr: „Unsinn!“, sagte er. „Das ist Hebräisch. Stammst du aus Israel oder so?“
„Nein“, sagte Arev. „Ich bin hier geboren. In der Türkei.“
„Dann verrat uns doch einmal, welche Sprache das war“, drängte der erste Juror.
„Schweig still!“, flüsterte die Großmutter in Arevs Ohr. „Um Gottes willen, sag kein Wort, dreh dich um und geh, sofort!“
Zum ersten Mal hörte Arev nicht auf diese Stimme. So laut sie konnte, rief sie: „Armenisch!“
Die Juroren waren pikiert, versuchten das aber zu überspielen. Ein paar Leute vor den Bildschirmen hielten den Atem an.
„Wie war noch dein Name?“, fragte der erste Juror nach, leicht verstimmt.
„Günes“, wisperte die Großmutter. „Du heißt Günes. Sag allen, dass du Günes heißt.“
Sie aber antwortete: „Arev!“
A-r-e-v … Mit jedem Buchstaben verzogen sich die Wolken ein Stückchen weiter. Plötzlich glaubte sie das Angesicht Gottes zu erblicken. Sie lächelte. Genau wie der Zauberkünstler verbeugte sie sich mit übertriebener Geste vor der Jury, vor dem Publikum und vor den Zuschauern zu Hause. Ohne auf die Abstimmung zu warten, lief sie durch die Tür, die zur Akazie hinausführte, und war auf und davon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen