Tübingen: Schwaben proben Schulrevolution
Als erste Stadt in Baden-Württemberg will Tübingen die alte Hauptschule abschaffen - und neue Verbundschulen gründen. Die CDU sperrt sich noch.
Längst hat sich die Hauptschule in der von Akademikerfamilien geprägten Unistadt Tübingen zur Nebenschule gewandelt. Zum aktuellen Schuljahreswechsel liegt die Übergangsquote von der Grund- zur Hauptschule bei nur noch acht Prozent. Über 60 Prozent der Zehnjährigen wechseln aufs Gymnasium. In einer der vier städtischen Hauptschulen haben sich für die neue Klasse gerade mal noch vier Schüler angemeldet. Zu wenig - und so wird mit der "Dorfackerschule" die erste Hauptschule in Tübingen demnächst geschlossen.
Vier der Schulen sind es gewesen / kamen nur wenig vorbei / eine wurde jetzt geschlossen / sind es gewesen nur noch drei
Und auch diese drei würde der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer lieber heute als morgen schließen - und Schüler samt Lehrer mit den Realschulen verschmelzen. Palmer sieht in der Aufteilung der Klassen nach nur vier Schuljahren ein Grundübel des deutschen Bildungssystems: "Die soziale Spaltung in unserer Gesellschaft kommt auch durch dieses frühe Aussondern von Kindern."
Palmer selbst war bis zum Abitur Schüler auf einer Waldorfschule. "Kinder gemeinsam zu unterrichten hat viele Vorteile", sagt er. "Für die Guten zum Beispiel den, dass sie lernen, Schwächeren zu helfen." Dennoch will er als Oberbürgermeister nicht seine Privatmeinung mit dem Amt vermischen: "Dass wir jetzt die Hauptschulen mit den Realschulen zusammenlegen wollen, liegt einfach an der normativen Kraft des Faktischen." Sprich: In den nächsten Jahren wird es schwerer, funktionierende Klassenstärken in den noch verbliebenen Hauptschulen zusammenzubekommen.
Anderen Städten geht es ähnlich. In Heidelberg sollen in den kommenden Jahren vier von acht Hauptschulen dichtgemacht werden. Nur in ländlichen Gebieten ist die Hauptschule noch wirklich Hauptschule, doch auch hier wird der Kindermangel bald manchen Schulhof leer fegen. Im April forderten deshalb knapp 100 Rektoren baden-württembergischer Hauptschulen in einem Brief an Kultusminister Helmut Rau (CDU) die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems. Sie stießen auf taube Ohren. Statt ihnen zu antworten, ließ der Minister sie disziplinarrechtlich abwatschen. Doch statt zu schweigen, meldeten sich anschließend immer mehr Hauptschulrektoren zu Wort: Inzwischen gibt es auf der Liste der Schulkritiker mehr als 350 Unterschriften aus dem ganzen Land (www.laenger-gemeinsam-lernen-bw.de).
Jede Forderung nach einer Schulreform wehrt Rau mit dem Hinweis ab, in der Pisa-Studie hätten Bayern und Baden-Württemberg relativ gut abgeschnitten. Palmer hält dagegen: "In Baden-Württemberg und Bayern sind die sozioökonomischen Voraussetzungen deutlich besser als in anderen Bundesländern, und das wirkt sich auch positiv auf das Bildungssystem aus. Daraus aber den Schluss zu ziehen, das dreigliedrige Schulsystem habe sich bewährt, ist einfach kurzsichtig."
Palmer, der in seiner Zeit als Landespolitiker ein Bündnis zwischen CDU und Grünen durchaus ins Kalkül zog, sieht in der Bildungspolitik inzwischen die größte Diskrepanz zwischen beiden Parteien. Von der FDP ganz zu schweigen: "Die ist bildungspolitisch in Baden-Württemberg ein Totalausfall." Vertreter von CDU und FDP hatten auch im Tübinger Gemeinderat gegen den Antrag gestimmt, eine Haupt- und eine Realschule der Stadt in einer "Verbundschule" zu verschmelzen.
Nun muss das Kultusministerium entscheiden - doch dessen ablehnende Haltung ist bekannt. Dort vermutet man hinter dem Tübinger Antrag ein trojanisches Pferd, weil sich hinter der "Verbundschule" nichts anderes verberge als die von CDU schon immer abgelehnte Idee einer "Gesamtschule" oder "Basisschule". Allenfalls einen "Schulverbund" lässt die konservative Schulbürokratie im Land bislang zu - also die gemeinsame Nutzung von Infrastruktur durch Haupt- und Realschule sowie Gymnasium unter einem Dach.
Die voraussichtliche Ablehnung des Tübinger Antrages lässt Palmer relativ kalt: "Irgendwann wird ihnen die demografische Entwicklung keine andere Wahl mehr lassen."
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