Tsedale Lemma über den Äthiopienkrieg: „Äthiopien droht zu zerfallen“
Regierungschef Abiy Ahmed erhielt den Nobelpreis. Nun führt er Krieg, um seine Macht auszubauen, sagt die bekannte Journalistin Tsedale Lemma.
Lesen Sie die englische Version des Interviews hier.
taz: Ms. Lemma, die Telefon- und Internetverbindungen nach Tigray sind abgeschnitten. Was wissen Sie über die Lage dort?
Tsedale Lemma: Die meisten Berichte kommen von Menschenrechtsorganisationen, Hilfswerken und internationalen Journalisten, die von den 43.000 Flüchtlingen aus Tigray im Sudan berichten. Demnach ist die Lage schlimm. Es gab in Mai-Kadra ein Massaker, das über 600 zivile Tote forderte, und es gibt zwei Versionen darüber, wer dieses Verbrechen verübte.
Als Regierungschef Abiy Ahmed im April 2018 an die Macht kam, herrschten Freude und Optimismus, der Begriff „Abiymania“ wurde geprägt …
ist Gründerin und Chefredakteurin der Zeitung „Addis Standard“ mit Sitz in Addis Abeba.
Ja, sogar wir kritischen Journalisten waren vorsichtig optimistisch. Zugleich hatten wir Bedenken, weil es Anzeichen einer Entwicklung in Richtung eines Ein-Mann-Autoritarismus gab
Wann änderte sich Ihr „vorsichtiger Optimismus“?
Der hielt nur ein paar Monate. Abiy spielte die Rufe nach einem klaren Reformplan immer herunter. Er öffnete politische Freiräume, aber es gab keine Rechtsstaatlichkeit. Es gab keine ernsthaften Gespräche mit der Opposition. Wir sagten immer: Wir müssen darüber reden, wie Wahlen stattfinden sollen in dieser angespannten Lage, denn wenn man nach 27 Jahren Härte plötzlich politische Freiheiten zulässt, muss man Ordnung wahren. Das war der Punkt, wo viele Äthiopier merkten, dass Abiy den falschen Weg geht. Er tat mehr, um Addis Abeba zu verschönern, als die Sicherheitslage zu verbessern.
2019 erhielt er den Friedensnobelpreis für seinen Friedensschluss mit Eritrea nach zwei Jahrzehnten Feindschaft.
Wir haben nie erfahren, was diese Friedensverträge beinhalten. Wir kritischen Journalisten haben gesagt, dass das äthiopische Volk es erfahren sollte und der Vertrag institutionalisiert werden muss. Aber das geschah nicht. Das äthiopische Parlament hat nie irgendwas gebilligt, Abiy umging auch das Außenministerium, es war eine persönliche Sache zwischen Abiy und Eritreas Präsident.
Tsedale Lemma, Journalistin
Abiy versprach nationale Einheit. War das naiv?
Ja. Äthiopien hat eine multinationale, föderale Verfassung. Aber Abiys Buch „Medemer“, in dem er seine Zukunftsvision entwirft, ist das Gegenteil. Der Ministerpräsident bekennt sich immer wieder zur multinationalen Föderation Äthiopien, aber seine Vision des Staatsaufbaus steht dem entgegen. Es gibt keine autonome Region, deren Regionalpräsident nicht von Abiy berufen wurde – außer Tigray. Stellen Sie sich vor, Angela Merkel bestellt den bayerischen Ministerpräsidenten ins Kanzleramt und sagt ihm: Dein Kabinett muss sofort zurücktreten. Es sieht danach aus, dass Abiy eine zentralisierte Regierung will, in der sein Einfluss unbeschränkt ist, und das widerspricht dem äthiopischen Staatswesen, wie es in der Verfassung von 1995 festgelegt wurde.
Drei Jahrzehnte hat die Regierungskoalition EPRDF regiert, sie gewann Wahlen mit über 90 Prozent und die TPLF aus Tigray hatte darin großen Einfluss, obwohl Tigray nur 6 Prozent der Bevölkerung stellt. War Abiys Ziel nicht einfach eine repräsentativere Führung?
Sie müssen eines verstehen: Die EPRDF war verhasst. Sie war von innen heraus verfault. Sie war korrupt, autoritär und brutal. Es war nötig, sich vom Erbe der EPRDF zu lösen, und daher wollte Abiy sie zerschlagen. Das ist verständlich, aber auch problematisch.
Problematisch wieso?
Im Dezember 2017, bevor Abiy an die Macht kam, setzten sich die Führer aller vier Parteien in der EPRDF 17 Tage lang zusammen. Sie listeten auf, was zu tun wäre, um die EPRDF zu retten: politische Gefangene freilassen, die Politik demokratisieren, die Justiz reformieren, den Sicherheitssektor reformieren. Abiy wurde als Ministerpräsident eingesetzt, um diese Reformagenda umzusetzen und das Land zu freien Wahlen zu führen. Stattdessen entschied er sich für die abrupte Zerschlagung der autoritären Partei, die das Land mit eiserner Hand regiert hatte. Er zerstörte die einzige politische Struktur, die das Land seit 27 Jahren hatte. Man muss so etwas sehr vorsichtig machen.
Abiy löste die EPRDF auf und gründete eine neue Regierungspartei, die „Wohlstandspartei“ (PP). Was bezweckte er damit?
Machtkonsolidierung. Die PP ist als Struktur gedacht, in der wenige Leute die Macht vom Zentrum heraus kontrollieren können. Die Äthiopier haben aber nicht gegen die Machtherrschaft der bisherigen Eliten gekämpft, um sie durch Eliten von Abiys eigener Volksgruppe der Oromo ersetzt zu sehen. Derweil warten die Oromo noch auf Antworten auf ihre Fragen nach Arbeitsplätzen, Selbstverwaltung, dem Recht auf ihre Sprache als Amtssprache, all das ist ungeklärt.
Empfohlener externer Inhalt
Sollte die PP nicht eine fairere Repräsentation der verschiedenen äthiopischen Bevölkerungsgruppen ermöglichen?
Ja, und bisher marginalisierte Regionen wie die Somali-Region wurden aufgenommen. Aber damit endete es. Es gab nie einen Gründungsparteitag der PP, es gibt keine kollektiven Beschlüsse. Alle Entscheidungen der Partei kommen aus Abiys Büro.
Die TPLF machte bei der Gründung der PP nicht mit. Wie viel Unterstützung hat die TPLF in Tigray?
Vor zweieinhalb Jahren hätte ich gesagt: Ihre Unterstützung schwindet. Die Tigrayer waren unzufrieden über die Art, wie die TPLF bis dahin die Bundes- und die Regionalregierung führte, die Regierung war autoritär, und Tigrayer waren ebenso unzufrieden wie der Rest Äthiopiens. Doch als Abiy an die Macht kam, begann er, die TPLF-Offiziellen zu verfolgen, während andere, die mindestens ebenso kriminell waren, unangetastet blieben. Die TPLF-Führung wurde zum Ziel der Antikorruptionsmaßnahmen und sagte, sie würde zum Sündenbock gemacht. Sie verließ Addis Abeba und ließ sich in Tigrays Hauptstadt Mekelle nieder. Das näherte sie dem Volk Tigrays an und vertiefte den Graben mit Abiy. Es war eine physische und nicht mehr nur eine politische Entfremdung.
Wie konnte die Beziehung zwischen Abiy und der TPLF so schlecht werden?
Es gibt eine lange Kette von Ereignissen. Mal ist eine Seite kriegerischer als die andere, mal sind beide Seiten kompromisslos. Und natürlich ist da die Rhetorik, der Krieg der Worte, die heftigen gegenseitigen Vorwürfe, all das hat die politische Stimmung vergiftet. Der Bruch kam mit der Auflösung der EPRDF und der Gründung der PP. Dann sagte Abiy wegen Corona die lang erwarteten Wahlen in Äthiopien ab, und die TPLF hielt in Tigray ihre eigenen Wahlen ab. Damit war der Punkt erreicht, wo es kein Zurück mehr gab.
Jetzt gibt es Berichte über Verfolgung ethnischer Tigrayer in anderen Regionen …
Ja, es gibt Hinweise auf staatlich sanktioniertes und gesellschaftliches „ethnisches Profiling“ von Tigrayern, nicht nur der TPLF. Wir hören von Tigraystämmigen in Addis Abeba und anderswo, bei denen nachts die Polizei auftaucht und die Häuser durchsucht. Es werden auch Bankkonten ohne offensichtlichen Grund geschlossen.
Was muss jetzt passieren?
Nötig ist eine sofortige Einstellung der Kampfhandlungen. Jeder weitere Tag verkompliziert den Konflikt und verschärft regionale Rivalitäten. Sudan, das an Tigray grenzt, ist ein Staat voller Söldner und Regierenden mit Waffen, die grenzüberschreitend tätig werden können. Eritrea unterstützt in Tigray die äthiopische Bundesregierung. Tigrays Regionalregierung meldet Drohnenangriffe, und das kann gut sein, denn die Arabischen Emirate haben eine Militärbasis in Eritrea, von der aus sie Drohnenangriffe gegen die Huthi-Rebellen in Jemen führen. Die TPLF hat im Gegenzug Eritrea beschossen. Der Krieg macht Äthiopien auch intern verwundbar. Der Zusammenhalt wird auseinandergerissen, Repression macht sich wieder bemerkbar. Wir hören von Massakern und bewaffneten Bewegungen in anderen Landesteilen wie dem Süden und Westen; die nationale Armee, die nach Norden verlegt wurde, hat ein Sicherheitsvakuum hinterlassen. Wenn das so weitergeht, wird die Föderation auseinanderfliegen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen