Tschechien im EM-Viertelfinale: Das erste große Märchen
Die Tschechen spielen sich bei der Männer-EM in einen Rausch und werfen die Niederlande mit 2:0 raus. Deren Auftritt ist rätselhaft blutleer.
Als ein Niemand waren die Tschechen in dieses Achtelfinale in Budapest gegangen, wahrlich hat keiner außer ihnen an die Überraschung geglaubt. Als Viertelfinalisten gingen sie mit 2:0-Sieg vom Platz, keineswegs unverdient. Das Team von Jaroslav Šilhavý hat die Niederländer zuerst niedergekämpft, dann niedergespielt, mit jeder Minute sicherer und schöner. „Das ist das Größte, wenn der Gegner klatscht“, sagte Šilhavý nach dem Spiel. „Wir hatten Gänsehaut.“
Dabei schien die Partie wirklich nicht gedacht für tschechische Gänsehautmomente. Neben den Streitereien um die Regenbogenfahnen – unfassbar waren diese vom ungarischen Personal nicht zugelassen worden, während Werbebanden in LGBT-Farben erstrahlten – schien das Spiel nebensächlich und klar. Die Niederländer hatten alle drei Vorrundenpartien gewonnen, die Tschechen bestenfalls unauffällig gespielt. Bei Oranje selbst aber herrschte schon vorab eine seltsame Stimmung.
Der wenig charismatische Bondscoach Frank de Boer und das mittlerweile zur Staatsaffäre ausgewachsene 5-3-2 standen in stetiger Kritik, gepaart mit unverhohlener Selbstgewissheit. Die Zeitung de Volkskrant schrieb von einem „roten Teppich bis ins Halbfinale“, de Boer erklärte den Sieg im EM-Finale zum Ziel. Und offenbar gibt es noch einen Fußballgott, der solch aufreizende Selbstgefälligkeit straft.
Die Tschechen wollten den Sieg mehr
Die Niederländer starteten zunächst gut und kamen vor rund 10.000 mitgereisten Oranje-Fans mit steilen Kombinationen vor allem über den zuletzt kritisierten Memphis Depay vors Tor. Doch die Tschechen hatten das Herz und den Schneid. Hinten stabil, kamen sie über Ševčík, Barák und den Leverkusener Schick immer wieder gefährlich vors Tor; gewiss, die etwas groben Flanken sahen nicht so elegant aus wie das Spiel der Niederländer, aber erfüllten ihren Zweck. Warum die Oranje-Abwehr den Gegner so frei gewähren ließ, bleibt ihr Geheimnis.
Als glaubten sie selbst daran, dass diese Tschechen nicht dribbeln können. Diese spielten sich allmählich in einen Rausch. Langsam machte sich ein Gefühl breit: Die Tschechen wollten es mehr. Und mit jeder Minute wuchsen das Selbstbewusstsein der einen und die Zweifel der anderen. Manchmal gibt es genau einen Moment, an dem ein Spiel kippt.
Spiel seines Lebens für Spätberufenen
In der 51. Minute vergab Malen nach großem Sololauf gegen Keeper Tomáš Vaclík, im Anschluss flog Matthijs de Ligt völlig unnötig vom Platz, weil er als letzter Mann den Ball mit der Hand wegschaufelte. Nach dem Spiel wollte de Boer bis dahin eine überzeugende Partie seiner Mannen gesehen haben. „Wir waren dominant. Dann steht von einer Minute auf die andere die Welt Kopf.“ Ganz so war es nicht.
Das Spiel seines Lebens machte derweil ein Spätberufener: der 28-jährige Defensivmann Tomáš Holeš von Slavia Prag. Im Ausland hat er nie gespielt, erst 2020 wurde er Nationalspieler. Holeš, der die Sonderaufgabe bekam, den niederländischen Spielmacher Georgino Wijnaldum aus dem Spiel zu nehmen, hatte gewaltigen Anteil an der Verzweiflung der Niederländer. Und nach einem Freistoß von Barák (68.) stand dieser Tomáš Holeš erneut richtig und nickte zur 1:0-Führung ein. Als er später schon unter Krämpfen litt, wie der Coach zu berichten wusste, setzte Holeš noch einmal zum Sprint über das halbe Feld an und legte wunderbar für Schick auf, der mit dem 2:0 sein viertes Turniertor erzielte (80.).
„Alle ein großes Hangover“
„Er hat 110 Prozent performt“, adelte Šilhavý. Rätselhaft blutleer dagegen blieb der Auftritt der Niederländer. „Wir haben alle ein großes Hangover“, sagte Frank de Boer, der einen Rücktritt nicht ausschloss. Die Tschechen glauben vor dem Viertelfinale gegen Dänemark ans nächste Wunder. Auch wenn nach dem Drama um Christian Eriksen die Dänen das Heldenmoment auf ihrer Seite haben.
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