: Trocken wohnen
Die Bauwut nach 1989 hat Leerstand erzeugt. Nutznießer sind Künstler und Projektemacher. Ein Streifzug
von HELMUT HÖGE
Wo immer man hinkommt im wiedervereinigten Berlin, hat schon wieder eine neue Ladengalerie aufgemacht. Die neue und teure Mitte ist inzwischen zur längsten Kunstmeile der Welt geworden. Der Clou ist: In diesen Läden wird anscheinend gar nichts verkauft.
Die derzeitige manische Phase begann als schwer depressive. Schon gleich nach der Wende bestürmten die sozial sensiblen Künster den Kultursenat, einen Atelierschutz zu verabschieden, sonst wäre es wegen der explodierenden Fabriketagenmieten bald um die Kunst in der Stadt geschehen.
Dort winkte man im Glauben an die heilenden Krafte des Marktes resigniert ab. Da wäre von Senatsseite nichts mehr zu machen; wie die Erfahrungen aus allen Hauptstädten der Welt bewiesen, würden die Künstler im urbanen Entwicklungsprozess nun mal an den Stadtrand gedrängt – ins terrain vague, wie die Franzosen poetisch sagen, wo jedoch für das Berliner Bürgertum seit je bloß der Pöbel siedelt.
Aber nicht nur die nachholende Hauptstadtwerdung verdrängte die Künstler. Vor allem die ebenso spekulative wie staatlich geförderte Bau- und Renovierwut, die jetzt den Banken zu schaffen macht. Zunächst versprach sie jedoch eine markante gentrification. Auch wenn die Objekte dann oft „schwer vermietbar“ waren und viele Immobilienentwickler Pleite gingen: „Es ist doch egal, wem die Häuser gehören, Hauptsache, sie stehen erst einmal“, wie es ein CDU-Politiker sagte.
Etwa gleichzeitig ließ der Kultursenat von namhaften Kölner Kunstkennern ein Gutachten über die Situation der Kunst in Berlin anfertigen: Zwar stehe es damit derzeit nicht zum Besten, hieß es, aber es würde sich ja fast zwangsläufig etwas interessantes Neues entwickeln – in der Stadt. Was lag da näher – für die flexiblen Künstler –, als sich mit der neuen Stadt und ihren Widersprüchen auseinander zu setzen?
Heraus kam dabei zunächst Krankunst, postexpressionistische Baustellenbilder bis hin zu einem von Daimler-Benz gesponsorten „Kranballett“. Künstlerisch wertvoller waren jedoch die immer gewagteren Bauschilder, entworfen von Computerdesignern und Baustellenmarketingfirmen. Hier standen dann auch die dort zuvor überpinselten Menschen plötzlich wieder im Mittelpunkt – ein Schild (am Checkpoint Charlie, das den Architekten Philip Johnson zeigte) wurde sogar regelrecht „entführt“. Inzwischen waren die ersten sechs Millionen Quadratmeter neuer Bürofläche fast fertig.
Ebenso optimistisch gestimmt wie auf Ausgleich bedacht, übergaben die Bauherren und Hauptstadtfondsverwalter ihre leer stehenden Läden „vorübergehend“ den bildenden Künstlern und ihre leeren Büros allen möglichen Netzdesignern. Auf der Stralauer Halbinsel vermietete man sogar das ganze Bürohochhaus eines ausgelassenen VEB-Betriebs samt Stasidependance an diesen „kreativen Mix“.
Es wurde einem Yellow Submarine ähnlich. Hinter jeder Tür verbarg sich ein überraschender Existenzentwurf. Hier arbeiteten ehemalige Spontis als Programmgestalter an irgendwelchen Festwochen in Vorpommern, daneben Chemiker an neuen Wunderdrogen, und darunter brannten arbeitslose Aleviten ihren Rembeticabeat auf CD – von Kunden und Touristen weitgehend unbehelligt. Die strömten an die endlos fade „Eastside Galery“, in das Mauer- und Fluchtkunstmuseum oder in die Kulturfabrik Tacheles, wo immer mehr Schaukünstler auftraten, sogar dauerschweißende Bildhauer, denen bereits das Medium – Eisen – Botschaft genug war. Drum herum siedelten sich zeitweilig bis zu 120 Galerien an.
Bis in den Prenzlauer Berg hoch ziehen sich inzwischen die Straßenzüge, wo eine Galerie nach der anderen, und alle mit kreativen Namen, aufgemacht hat. Da sitzen die jungen Künstlergruppen nun in ihrem „ArtsLab“, „Brainstudio“ oder in der „Kunstpause“ oder im „Büro für angewandtes Interesse“ und trinken tiefgekühlten Orangensaft, während ihre fantasievollen Bildschirmschoner vor sich hin zappeln. Dann und wann klingelt das Handy.
Neulich war ich in der Ackerstraße in einer Galerie, wo man an einem von der Pharmaindustrie finanzierten Medizin- und Gesundheits-E-Portal arbeitet. Gleichsam zur Entspannung hatte man sich dort den Künstler Klaus Heid eingeladen, damit er einen Vortrag über „Risiken und Nebenwirkungen des Kunstbetriebs“ halte. Das Thema war wörtlich gemeint – und ging bis hin zu Kopfschmerzen und Kater und den entsprechenden Kräutertees gegen diese Leiden. Der Künstler hatte die Tees dann auch praktischerweise gleich mit dabei und bot sie in Fünfziggrammbeuteln sogar zum Verkauf an. Zum Abschluss veranstaltete ein französischer Kunstsoziologe, David Delsart, eine Weinprobe, die er mit kenntnisreichen Bemerkungen über den Weinanbau im Allgemeinen und Besonderen verband, und wozu er ergänzend ein fünfzehnseitiges Papier verteilte.
Es gibt inzwischen eine Einbrecherbande, angeblich aus Rumänien, die sich auf die neue Computertechnik in diesen Kunstläden spezialisiert hat. Dazu gehen sie manchmal sogar durch die Wand. Beim Basisdruckverlag in der Schliemannstraße nahmen sie vor einiger Zeit auf diesem Wege nur den – zum Glück bloß mit wertlosen Illustrationen gefüllten – Geldschrank mit. Bei den zwei Quartiersmanagerinnen des Wrangelkiezes blockierte der Diebstahl jedoch das ganze „Geschäft“.
Georg Stanitzek, dem einstigen Mitarbeiter des Soziologen Niklas Luhmann, ist zu danken, für diese ganze Entwicklung (die inzwischen nicht einmal mehr vor Berlinromanschreiberbüros und -chatsalons Halt macht) den alten Begriff des „Projektemachers“ reaktiviert zu haben. Es geht um die Verwandlung des werkbesessenen Künstlers in die nahezu werklose Performance eines Geschäftsführers seiner selbst. Eigentlich braucht man nur noch Telefon und Fax.
Neulich war ich in einer Galerie, die nichts mehr von Kunst besaß. Der Feuilletonchef der Netzeitung (in Mitte domiziliert) feierte dort Geburtstag. Er erzählte mir, dass der Laden unter anderem seinem Mitbewohner gehöre, sie würden nebenan arbeiten, dieser Raum wäre eigentlich nur für Partys gut.
Es scheint, dass die Kunst im neuen Berlin an die Stelle des alten Trockenwohnens getreten ist. Auch bei anhaltender Rezession und wachsendem Leerstand garantiert sie so einen gewissen Minimalurbanismus – im Sinne von Geschäftigkeit und Hier-gehts-ab. Die Schwimmübungen auf dem Trockenen signalisieren insbesondere den Berlintouristen „Atmosphäre“ und „Urbanität“. Diese werden darüber hinaus auch noch von einer wachsenden Zahl „Events“ angezogen. Der Potsdamer Platz geriert sich gar als Permanentevent. Die Veranstaltungen bieten den Künstlern Anstellung auf Zeit – zur „Projektrealisierung“.
Im Gegensatz dazu ist der Einheimische eher geneigt, abzuschalten und sich nicht ohne zwingenden Grund aus seiner Gewohnheit reißen zu lassen. Die Überzahl der Touristen insbesondere im Sommer bewirkt jedoch, dass sich auch der Berliner in Mitte inzwischen wie ein Tourist vorkommt – und auch so benimmt. Der Bezirk hat inzwischen die ehemalige „Freie Berliner Kunstausstellung“ ersetzt, die einmal jährlich in den Messehallen stattfand und an der sich jeder, der einen Pinsel halten konnte, beteiligen durfte.
Dies betrifft nicht nur die Personage und die flaneurhafte Aufmerksamkeit, die dort herrschte, sondern auch die ganze Bandbreite der Kunst selbst. Sogar die Restaurantbesitzer in Mitte überbieten sich mittlerweile in Wandschmuck und Werbung. Der Türsteher vor dem türkischen Lokal in der Oranienburger Straße ist inzwischen berühmt, ebenso die Werbepostkarte der vietnamesischen Suppenküche in der Gipsstraße und der russische Barpianist in der Friedrichstraßenpassage.
Manchmal ist es gar des Guten zuviel: wenn im vegetarischen Lokal in der Sophienpassage Yves-Klein-blaue Neonröhren zucken, die zwar das Manische in wirtschaftlich depressiven Phasen gut zum Ausdruck bringen und auch davon zeugen, dass schnelle Lösungen „von unten“ eine Chance haben. Aber die Salate sehen in diesem optimistischen Licht einfach scheiße aus.
HELMUT HÖGE, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Nordfriesland, kam in den Achtzigerjahren nach Berlin, wo er nach wie vor sein Brot als Kommunikator verdient
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