Trend im Januar: Warum Verzicht auf den Verzicht die wahre Größe wäre
Wie so viele andere verzichtet unser Autor im Januar auf Alkohol. Mit aggressiver Klarheit formuliert er ein paar weitere Verzichtvorschläge.
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R espekt ist der kleine Bruder der Liebe. Wenn wir unter dieser Prämisse mal den neuen Verzichtmonat Januar uns vornehmen, dann würde ich hier gleich einen zweiten raushauen wollen: Der eigentliche Verzicht wäre der Verzicht auf den Verzicht. Denn die in ihrer medialen Massivität inzwischen unentkommbar gewordenen Verlautbarungen mehr oder weniger Prominenter, warum sie nun in diesen tristen 31 Tagen nach Weihnachten und vor Fasching auf Alkohol verzichten, weisen letztlich mal wieder nur auf die Katastrophen hin, auf die wir scheinbar immer unentrinnbarer zusteuern.
Nahe liegt ja zunächst mal die Frage, warum die politisch in der Nähe jeder Kamera und jedes Aufnahmegeräts Stehenden nicht in the first place mal darauf verzichten: Also statt einen Monat kein Weinchen lieber die Beinchen in die Hand nehmen und sich öffentlicher Präsenz enthalten. Denn mit Verzicht anfangen soll man doch da, wo es am meisten wehtut.
Und da sind wir noch gar nicht in moralische Tiefenschichten vorgedrungen, mit der Frage: Mit welchem persönlichen Verzicht könnte ich der Gemeinschaft am besten dienen? Einen Monat schweigen, einen Monat nicht fliegen, einen Monat keinen Bullshit verbreiten, einen Monat fordern, den Spitzensteuersatz zu erhöhen, die Vermögensteuer wieder zu erheben, die Erbschaftsteuer zu reformieren und die privaten Krankenkassen abzuschaffen?
Und wie wäre es, wenn die große Pest und das Statussymbol Nr. 1 unserer Zeit, nämlich das angeblich Keine-Zeit-Haben, mal eine Pause bekäme? Also einen Monat zu sagen: Doch, ich bin da, bin verfügbar, wende dich an mich! Deine Sorge ist meine Sorge, dein Problem meins – und zwar jetzt gleich, nicht irgendwann! Also sozusagen die ultimative Absage an alle Zeitschriftentitel der Marke „Endlich Zeit für mich“?
Kippchen, Linechen, Klarer am Morgen
Utopisch, gewiss. Deswegen nochmal anders herumgedreht, auf den erwähnten Verzicht auf den Verzicht: Wo es so vielen Menschen offensichtlich so schlecht geht, dass sie auf gar nichts verzichten können, gerade nicht auf die Mittelchen, die ihren Alltag noch so einigermaßen erträglich machen: Wäre nicht da das Kippchen, das Linechen, der Joint am Abend und der Klare am Morgen ein Akt der Solidarität? Ein Zeichen, dass man in der Mitte der Gesellschaft sich eben nicht mehr nur ausschließlich auf sich selbst und die eigenen Wehwehchen konzentriert?
Denn vergessen wir nicht: Die großen und gernegroßen Schurken unserer Zeit, die Trumps und Söders – sie trinken nicht, es sei denn Cola light. Sie sind so voller negativer Energie, dass die Idee, diese mal zu betäuben, ihnen gar nicht in den bösartig-nüchternen Sinn kommt.
Okay, Biden, der bedeutendste US-Präsident seit Roosevelt, trinkt auch nicht. Und der große Pasolini hat ebenfalls nicht getrunken. Und ich trinke ja bislang auch nichts in diesem Januar!
Und was bewirkt das? Ich kann sagen (Serviceteil jetzt): leicht gelangweilte, aggressive Klarheit – nicht unbedingt mein Lieblingszustand. Ich bleibe aber gespannt, wie sich mein Gemüt und Körper in den restlichen trockenen Wochen entwickeln werden. Mehr Sport mache ich nicht, vielleicht weil der Faktor Belohnung entfällt. Mehr arbeiten tue ich auch nicht, möglicherweise ebendeswegen. Und ebenso möglicherweise entlädt sich ja die Klarheit in Aggression gegen die (vermeintlich) genussvoll Nüchternen: wovon dieser Text dann Ausdruck wäre.
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