Traumapädagoge über Folgen von Hanau: „Manche erstarren, manche zittern“
Der Hanauer Traumapädagoge Thomas Lutz betreut Betroffene der rassistischen Terrorattacke. Er beobachtet eine tiefsitzende Angst.
taz: Herr Lutz, wie haben Sie die letzten Tage in Hanau erlebt?
Thomas Lutz: Die letzten Tage waren entsetzlich, wenn auch nicht sehr überraschend aufgrund der rechtsextremen Entwicklungen in Deutschland. Jetzt hat es Hanau getroffen.
Wie haben Sie vom Terroranschlag mitbekommen?
Hanau ist ein Kaff, wenn hier ein Großeinsatz der Polizei mit Hubschraubern stattfindet, dann bekommen wir das mit. Wir haben innerhalb vom Zentrum für Traumapädagogik eigentlich schon Mittwochnacht miteinander Kontakt aufgenommen und überlegt, was wir machen können. Donnerstagfrüh stand dann schon fest, dass wir hier den Tag über bereitstehen werden, um Betroffenen, Angehörigen oder Zeugen Erstberatungsgespräche anzubieten und Krisenintervention zu machen.
Wie viele MitarbeiterInnen waren das?
Insgesamt vier KollegInnen. Im Laufe des Tages kamen die ersten Menschen aus dem Umfeld der Tatorte zu uns. Bei einer Krisenintervention ist es wichtig, den Menschen zunächst Raum zu geben, zu erzählen, was sie erlebt haben. Ihnen zu helfen, dafür Worte zu finden. Nach traumatischen Ereignissen fragmentiert das Gehirn alle Wahrnehmungen und Erlebnisse. Menschen haben dann Schwierigkeiten, zu formulieren, Worte zu finden. Manche erzählen immer wieder das Gleiche, manche sind sprachlos und stumm oder erstarren. Andere haben erhebliche Stressausschüttung, zittern und vibrieren am ganzen Körper, kommen nicht mehr zur Ruhe und können nicht mehr still sitzen.
Jahrgang 1958, ist Diplomsozialarbeiter und Traumapädagoge. Seit 2004 ist er Geschäftsführer der Welle gGmbH, eines Trägers ambulanter, sozialpädagogischer Leistungen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe in Hanau.
Wie helfen Sie konkret in dieser Situation?
Erst mal Essen und Trinken anbieten. Zuhören. Dann sprechen wir mit Ihnen über Gefühle und Körperempfindungen. Viele Betroffene empfinden sich nicht mehr als normal oder sagen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Wir versichern ihnen dann, dass das in solchen Situationen ganz normale Reaktionen auf ein traumatisches Erlebnis sind.
Sie können natürlich keine Details verraten. Aber worüber haben die Menschen, die zu Ihnen gekommen sind, gesprochen?
Was bei allen gleich war, war eine tiefsitzende Angst, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Also wirklich Angst, vor die Tür zu gehen, Angst, an die normalen Bezugsorte zu gehen, Angst, am Kiosk die Zeitung zu holen, oder Angst, Treffpunkte wie eine Shishabar aufzusuchen. Das bedeutet für die Menschen ja, dass sie vom öffentlichen Leben ausgeschlossen sind durch diese rassistischen, faschistischen Morde. Auch da versuchen wir zu vermitteln, dass diese Angst normal und angemessen ist in dieser Situation und dass die Lösung nicht darin besteht, diese Angst zu unterdrücken. Alle Gefühle sind Freunde.
Die Angst ist ein Freund?
Angst ist ein Gefühl, das uns vorsichtig macht. Es geht darum, mit der Angst in Verhandlung zu gehen und zu gucken, wie viel Angst angemessen ist und wie viel Angst wir vielleicht reduzieren können. Das ist dann die weitere Arbeit. Wir machen hier die Erstversorgung und gucken, wer aus unserer Sicht stabil ist und sich selbst auch als stabil einschätzt. Und Menschen, die es schwerer getroffen hat, vermitteln wir an psychotherapeutische Einrichtungen, wo sie sich grundlegend erholen können. Dazu gehören auch stationäre Therapien, Rehabilitationskuren, und wenn es wirklich tief getroffene Angehörige sind, auch Psychiatrie.
Welche Gefühle kamen noch auf?
Scham- und Schuldgefühle. Manche machen sich selbst Vorwürfe, wenn der Sohn erschossen wird.
Ansprüche
Menschen, die Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat wurden und deren Gesundheit damit geschädigt wurde, können einen Anspruch auf sogenannte Opferentschädigung anmelden. Auch Hinterbliebene von Personen, die infolge einer Gewalttat gestorben sind, haben diesen Anspruch.
Hilfen für die Opfer von Hanau
Die Bundesregierung hat zugesagt, die Angehörigen und Familien zu unterstützen. Demnach haben nahe Angehörige einen Anspruch von 30.000 Euro. Geschwister erhalten 15.000 Euro. Nach einer Gesetzesänderung 2018 wurden diese Hilfen erhöht. Sie kamen damit nicht nur den Hinterbliebenen des Anschlags auf dem Breitscheidplatz zugute, sondern auch den Hinterbliebenen der NSU-Mordserie. Die Soforthilfen sollen innerhalb weniger Tage ausgezahlt werden. (taz)
Aber wie kann man sich schuldig fühlen für etwas, was man nicht getan hat?
Schuld ist besser zu ertragen als Ohnmacht. Zu akzeptieren, dass man seine Kinder nicht rund um die Uhr schützen kann, ist ein unerträglicher Fakt. Das ist schwerer auszuhalten, als sich selbst die Schuld zu geben. Manche sagen dann: Hätte ich ihm gesagt, er soll eine Stunde früher nach Hause kommen, dann wäre das nicht passiert.
Wird eigentlich auch über das mediale Interesse gesprochen?
Die Presse ist vielen Bekannten und Freunden in der kurdischen Community sehr übel aufgestoßen. Zu viel ist das eine. Zu aufdringlich, respektlos und voyeuristisch ist das andere. Mit der Kamera draufhalten, egal was gerade bei den Menschen im Inneren passiert, und das Verdrehen von Worten – das war Thema. Und viele sind richtig geschockt, dass Angela Merkel Erdoğan kondoliert hat. Viele Opfer kommen aus kurdischen Familien, die vor dem türkischen Faschismus hierher geflüchtet sind und dann hier von einem faschistischen Mörder getötet werden. Und nun instrumentalisiert der Faschist Erdoğan diesen Anschlag für sich.
Wie haben die Zeugen oder Angehörigen eigentlich von Ihrem Angebot erfahren?
Wir sind hier sehr gut eingebunden in Hanauer Strukturen. Ich bin direkt am Donnerstagvormittag zum kurdischen Verein gefahren und habe gesagt, wer dort betroffen ist, kann sofort Gespräche mit uns bekommen. Wir sind auch eingebunden in die Hanauer Initiative Solidarität statt Spaltung. Wir haben diese Information in unseren Netzwerken gestreut, die dann auch schon wieder unterwegs waren in die verschiedenen Communitys in Hanau und das weitergetragen haben. Es hat mit Sicherheit nicht alle Menschen erreichen können.
Wie viele Menschen sind hierhergekommen, um die Erstversorgung in Anspruch zu nehmen? Und was für Menschen?
Da bin ich sehr vorsichtig. Meine Kolleginnen und ich haben uns darauf geeinigt, keine genaueren Angaben zu den Menschen zu machen. Bisher haben 12 Menschen unsere Hilfe in Anspruch genommen. Die meisten kommen nicht alleine, sie bringen Freunde, Familie oder Vertraute mit. Das ist auch gut so, weil, wenn sie wieder gehen, ist es auch besser, wenn jemand bei ihnen ist. Wir haben auch Termine vereinbart für die nächsten Tage. Bisher waren Angehörige und Zeugen bei uns. Dieses Angebot bleibt weiter bestehen. Wir wollten erst nur am Donnerstag zur Verfügung stehen. Aber wir sehen, dass die staatlichen und städtischen Organisationen nicht in die Gänge kommen.
Es gab auch von der Polizei in Kesselstadt ein Angebot, wo sich Angehörige beraten lassen konnten.
Ja, und die Polizei informiert und leitet an Fachstellen weiter. Sie arbeitet auch eng mit der Hanauer Hilfe zusammen, das ist eine Beratung für Opfer und Zeugen von Straftaten. Dort habe ich auch 19 Jahre gearbeitet. Die leisten gute Beratungsarbeit. Das ist zum Beispiel auch eine gute Anlaufstelle, wenn es um die weitere Beratung geht, um Prozessbegleitung etwa. Die Angelegenheit wird sich ja noch hinziehen für die Betroffenen. Und jeder Termin, jede Zeugenvernehmung oder Aussage vor Gericht kommt einem retraumatisierenden Moment gleich.
Wir wollen und wir können nach dem NSU, nach Kassel, nach Halle, nach Hanau nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir, die taz, können Rassismus, rassistischen Hass und Mord nicht als deutsche Normalität im Jahr 2020 hinnehmen. Wir brauchen jetzt Ideen, Taten, Gesetze, all das. Und eine gesellschaftliche Umkehr. Nicht weniger.
Brauchen alle Menschen, die einen Terroranschlag miterleben, therapeutische Hilfe?
75 Prozent der Menschen, die von solchen Verbrechen betroffen sind, regulieren es selbst über Gespräche mit Freunden, Bekannten oder Nachbarn. Rund 25 Prozent brauchen darüber hinaus beraterische und therapeutische Hilfe. Beim Trauermarsch am vergangenen Freitag, wo Betroffene zu Wort kamen, wo wir die Namen der Opfer genannt haben, da haben wir gemerkt, dass viel Verarbeitungsarbeit auch unter den Menschen selbst stattfindet. In Kesselstadt kamen hinterher auch Anwohner aus den Hochhäusern zu den Angehörigen, viel Verarbeitungsarbeit läuft über Gespräche.
Gibt es aktuell noch andere Angebote in Hanau als die eben genannten?
Es gibt das Praxisinstitut hier über uns, die haben angeboten, mit dem Jugendzentrum in Kesselstadt zu arbeiten, mit den betroffenen Jugendlichen, aber auch mit dem Personal, das ja auch extrem belastet ist. Dort sind die Schwankungen im Verhalten zwischen Ausrasten und tiefer Trauer groß.
Gehen Kinder oder Jugendliche anders mit solchen Ereignissen um?
Teilweise versuchen Jugendliche die Situation in Witzen zu verarbeiten oder durch Lächerlichmachen. Kleine Kinder rennen auch durch die Gegend und schießen, sie versuchen, durch spielen zu verarbeiten. Ein Jugendlicher dort, der getötet wurde, hat sich am Abend noch von dem Jugendzentrum verabschiedet und war eine Viertelstunde später tot.
Lief die Erstversorgung der Stadt aus Ihrer Sicht gut ab?
Nein. Wenn hier ein Unfall passiert, dann kommen Feuerwehr, Krankenwagen und Polizei. Wenn jemand auf Gleisen überfahren wird und menschliche Teile rumliegen, dann gibt es Kriseninterventionsteams, die die Erstversorgung vor Ort übernehmen. Sie arbeiten mit Zeugen, aber auch mit allen, die dort vor Ort helfen mussten, Menschen zu retten oder Menschenteile einzusammeln. Das ist wichtig: Je schneller Hilfe angeboten wird, umso besser und schneller kommen die Menschen auch darüber hinweg. Aber davon habe ich in Hanau nichts mitbekommen.
Es war am Mittwochabend kein Kriseninterventionsteam vor Ort?
Da war alles abgesperrt, da war nur die Polizei und hat ermittelt.
Sie klingen grundsätzlich unzufrieden mit der staatlichen Versorgung.
Wenn die Stadt wirklich Hilfe anbieten wollen würde, dann müssten sie grundsätzlich mit den Kriseninterventionsteams auch Übersetzer mitschicken, ansonsten tauchen Teams vielleicht auf, aber sie können gar nicht Kontakt mit den betroffenen Menschen aufnehmen, weil manche kein Deutsch sprechen. An Übersetzern mangelt es eigentlich, seitdem ich diese Arbeit mache. In unserer Einrichtung arbeiten auch Menschen aus den Communitys. Sie sind dann das Bindeglied in kurdische und türkische Communitys. Wir arbeiten auch mit der Initiative Kein Mensch ist illegal zusammen oder den Lampedusa-Flüchtlingen – das sind alles Initiativen von unten, genau wie die Initiative Solidarität statt Spaltung. Initiativen von unten arbeiten nach Bedarfsorientierung und sind wesentlich schneller und flexibler als die öffentliche Hand, weil sie direkte Kontakte haben zu Menschen, die hier betroffen sind. Wenn sie sich durch die Stadt bewegen, merken Sie, dass viele Menschen mit Migrationshintergrund aufgeregt und wachsam sind. Es gibt ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis. Es scheint den Leuten nicht zu genügen, was im Moment gemacht wird.
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