Traumaforschung nach den Anschlägen: Es geht wieder los in Paris

Ganz Paris träumt von der Umwelt – das Thema ist überall in der Stadt präsent. Doch eigentlich bewegt die Menschen anderes.

Passanten laufen und skaten vor einer in Nationalfarben und mit „Paris je t'aime“-bemalten Wand

Geliebtes Paris. Foto: dpa

PARIS taz | Zebrastreifen sind in Paris nichts für Feiglinge. Egal ob mit oder ohne Ampel: Autofahrer brausen stets über sie hinweg, beherzt heißt es sich in den Verkehr zu werfen, will man die Straße überqueren. Zwar sind laut Stadtverwaltung 2014 immerhin 4 Prozent weniger Autos unterwegs gewesen, Tendenz steigend – doch immer noch heißt es: C’est tout bouché, alles verstopft.

Dekarbonisierung sieht anders aus. Nur in den Tagen nach den Anschlägen vom 13. November war kurz gespenstische Ruhe eingekehrt. Die ist definitiv vorbei, betrachtet man an diesem frischen Dezembermorgen Madame im großbürgerlichen 16. Arrrondissement, dem Viertel, in dem Carla Bruni und Nicolas Sarkozy logieren, einem Viertel, in dem sich das Leben stets und gefühlt à l’aise abspielt, behaglich. Madame hat ihren Pekinesen unter die Pelzjacke geklemmt, der Hut ist verrutscht, und Madame drischt, begleitet von schrillen Tönen, auf einen Land Rover ein, dessen Fahrerin sie trotz grüner Ampel nicht über die Chaussee lassen wollte.

Es ist alles wie in einem dieser Wimmelbilder des großen Pariser Zeichners Sempé. „La vie reprend“, das Leben in Paris fängt an, wieder seinen Gang zu nehmen, „zumindest vordergründig“, sagt am Telefon Xavier Delucq, der Zeichner des Cartoons auf dieser Seite. Wir verabreden ein Gespräch – „treffen wir uns doch im McDonald’s beim Stade de France. Ein guter Ort für ein Gespräch darüber, was die Attentate mit den Parisern gemacht haben“, meint der 45-Jährige. Les Parisiens, sie stapeln sich wieder in der Metro, sie trinken vin chaud, Glühwein, am Christkindlmarkt entlang den Champs Élysées, versuchen tapfer in l’ésprit de noël zu kommen, in Weihnachsstimmung.

Und dann sitzt man im Vorortzug raus zum Gipfel nach Le Bourget, und im Waggon fällt ein Feuerlöscher mit lautem Rums aus der Halterung zu Boden, und alle reißen die Köpfe herum, und für einen Moment ist es sehr still. Ein kleines Mädchen fängt an zu weinen, und dann öffnen sich die Zugtüren an der immer überfüllten Station Châtelet, drei überaus testosterongesättigte Jungs steigen zu und eine Chinesin. Die hat eine Miniorgel dabei, mit der sie das Abteil mit einer Mandarinversion von „What a Wonderful World“ beschallt. Bei ihrem Rundgang macht sie gut Kasse.

Nur in den Tagen nach den Anschlägen war Ruhe eingekehrt. Die ist vorbei

Der Erde droht der Hitzekollaps. Deshalb wollen die Staatschefs der Welt Anfang Dezember in Paris einen globalen Klimaschutz-Vertrag vereinbaren. Die taz berichtete vom 28. November bis zum 14. Dezember 2015 täglich auf vier Seiten in der Zeitung und hier auf taz.de.

Unter anderen Umständen gucken die Pariser meist mit leerem Blick durch die Menschen, die Geld von ihnen wollen. In Le Bourget angekommen, am sichtlich für den Gipfel aufgehübschten Bahnhof, wehen bunte Fantasiefahnen. Auch hier, in der bescheidenen Vorstadt von Paris, extra muros und am Rande der immer pickepackevollen périphérique, des Autobahnrings, prangen überall COP21-Plakate, auf denen in allen Weltsprachen übersetzt so fromme Sprüche stehen wie: „Unseren Kindern werden wir nicht sagen können, dass wir es nicht gewusst haben. #COP21PARIS“.

Zu Fuß geht es dann zum Gipfel. Auf dem leicht vermüllten Bürgersteig drängeln sich berittene Polizei und Sikhs, Zivilbullen und tief verschleierte Musliminnen. Der pink gestrichene Salon Wassim offeriert den Herrenschnitt für acht Euro, und in den Fensterhöhlen der aufgelassenen Cinémas Aviatic hacken Tauben aufeinander ein. Im benachbarten, ob seiner Warenvielfalt fast nicht betretbaren pakistanischen Geschäft Bazar wird der Wunsch nach einer Postkarte von Le Bourget abschlägig beschieden. „Postkarten gibt es nur in Luxusläden in Paris.“

Das sitzt. Wir kaufen beim Chef einen Badvorleger für zwei Euro und setzen unsere Reise fort. Ein kalter Wind treibt uns Richtung COP21. An einer großen Kreuzung schenkt uns der gebürtige Algerier Kamal im Café des Rathauses einen Pastis an der Bar aus. „Paris ist die schönste Stadt der Welt, aber in der Vorstadt kann man auch leben. Ich bin gerne hier.“

„Grand Paris muss kommen“

Dass die meisten Pariser ihre Vorstadt nur unerträglich finden, kommentiert Kamal mit einem Achselzucken. „Sie halten sich für was Besseres.“ Wir müssen an Yves Lion denken, den bekannten Pariser Architekten und Urbanisten. Geboren in Marokko, führt der 70-Jährige im 14. Arrondissement ein Büro mit über hundert Mitarbeitern. Mit ihm hatten wir am Tag zuvor gesprochen, und er versteht sich als Anwalt, als Vorkämpfer für ein Zusammenwachsen von Paris intra und extra muros, jenem Großraum von insgesamt rund zwölf Millionen Menschen.

„Grand Paris muss kommen, diese Stadt und ihr Umland müssen sich transformieren. Sonst erstarrt hier alles, und das Zusammenleben wird noch problematischer, als es ohnehin schon ist.“ Lion gewinnt immer wieder Wettbewerbe, in denen architektonisch und ökologisch interessante Projekte für Grand Paris angestoßen werden. Er hat die Avenue de France vom Gare d’Austerlitz in Richtung Ivry menschen- und naturfreundlicher umgebaut. „Aber viel zu oft bleibt es bei großen Präsentationen und guten Reden.“

Lion bezeichnet sich selbst als „unheilbaren Optimisten“, doch langsam vergeht auch ihm die kreative Lust. „Ich weiß nicht mehr, was ich mit meinen Franzosen machen soll“, sagt er treuherzig, „ich liebe doch dieses Land. Und ganz besonders Paris. Aber es muss ein Ruck durch die Gesellschaft gehen. Wir dürfen uns nicht mehr blockieren. Gerade jetzt nach diesen furchtbaren Anschlägen nicht.“

Nach dem Besuch bei Yves Lion fuhren wir ins 10. Arrondissement. Um die Ecke vom wieder geöffneten Café Bonne Bière, vor dem am 13. November fünf Menschen den Tod fanden, gab es ein Theaterstück. „Kyoto Forever 2“ hieß es, eine Farce über den Konferenzbetrieb auf Gipfeltreffen, voller Schnellredner und Selbstdarsteller. Wir mussten sehr lachen. Als wir das Theater verließen, fiel uns an einer Hauswand gegenüber ein großes Banner auf. „Pas en mon nom“, stand an der als salafistisch geltende Omar-Moschee, „nicht in meinem Namen“.

Douce France – süßes, geliebtes Frankreich. Ein herrliches Lied von Charles Trenet, dem Nazikollaboration nachgesagt wird. Douce France im Kopf verlassen wir an diesem Dezembertag das Rathauscafé von Le Bourget.

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