Transfer getöteter Syrer aus Kobani: Zehn Kilometer bis zum Grab
Zum Beerdigen werden tote Syrer aus Kobani ins türkische Suruc gebracht. Irakische und türkische Kurden wollen in die andere Richtung.
Eine Leiche fehlt an diesem Nachmittag. Die syrische Kurdin, so erzählt man sich, sei von den Dschihadisten enthauptet worden. Den Körper der Frau habe man in die Türkei gebracht – aber ohne Kopf. Weil der Anblick so grausig sei, finde sich kein Leichenwäscher für die Verstorbene. Jetzt liegt sie im Kühlhaus, und niemand weiß, was tun mit ihr.
In jedem Krieg gibt es Schauergeschichten, die unter den Betroffenen weitergereicht werden. Niemand weiß, ob sie wahr sind. Aber das scheint auch nicht so wichtig. Für die Kurden an der türkisch-nordsyrischen Grenze ist es ihre eigene Wahrheit, die gerade ihren Alltag bestimmt. Die Geschichte der enthaupteten Frau wird an einem Donnerstagvormittag auf einem Friedhof in Suruc erzählt, neben all den entsetzlichen Schilderungen über Hinrichtungen, Vergewaltigungen und Folter durch den Islamischen Staat (IS).
Zuhal Ekmez, Politikerin der Kurdenpartei BDP und Bürgermeisterin von Suruc, hört sich all diesem Wahnsinn an. Die 36-Jährige schüttelt Hände, tröstet weinende Frauen. Ständig klingelt Ekmez’ Handy. Eine geflohene Kurdin berichtet ihr, dass die Dschihadisten ihren Sohn ermordet und seine Körperteile einzeln vor ihr Haus geworfen hätten. Die Mutter habe den Körper ihres Sohnes dann mit einer Nadel wieder zusammengenäht, ihr Kind dann auf dem Rücken in die Türkei geschleppt, um diesen hier beisetzen zu können. Ekmez zieht an einer Zigarette. Keine schreckgeweiteten Augen, kein Erstaunen, nichts. Nur ein Nicken und Beileidswünsche.
An diesem Nachmittag werden in der 60.000-Einwohner-Stadt Suruc acht Tote aus der lediglich zehn Kilometer entfernten syrischen Stadt Kobani beigesetzt. Sie sind im Kampf gegen die IS-Milizen umgekommen. Es waren Kurden aus Syrien, „unsere Brüder und Schwestern“, sagt Ekmez, die ununterbrochen raucht während des Gesprächs. Falls möglich, werden die Toten aus Kobani an die türkische Grenze geschafft, dort von der Ambulanz abgeholt und dann in Suruc beigesetzt. Meist weiß niemand, wie die Toten heißen. Deswegen werden von den Leichen Fotos gemacht, um nach dem Krieg vielleicht doch noch die Angehörigen zu finden. Aber die Spur der geköpften Frau, sie scheint verloren.
Hunderte Kurden stehen auf dem sandigen Friedhof, Fahnen mit dem Konterfei Abdullah Öcalans, dem inhaftierten Chef der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, werden geschwenkt. Junge Männer in Pluderhosen und olivgrünen Overalls, der Uniform, die auch Kämpfer der PKK tragen, schreien „Kobani wird zum Grab für den IS“. Die Menschen rufen bei jedem Sarg, der an ihnen vorbeigetragen wird „Sehit“ – „Märtyrer“. Die Bürgermeisterin jubelt mit. Ihr langes braunes Haar hat sie mit einem Band in den Farben der kurdischen Flagge, Rot, Weiß und Grün, zusammengebunden.
Grenzregion im Ausnahmezustand
Verschleierte Frauen in langen Röcken tragen die Särge der weiblichen Toten. Die Männer schultern die in PKK-Fahnen gehüllten Särge der männlichen Leichen. An den frischen Gräbern angelangt, werden die in weiße Tücher eingewickelten Leichen aus den Särgen geholt und in die Erdlöcher hinuntergelassen – gemäß dem islamischen Glauben, in welchem die Toten ohne Sarg beigesetzt werden. Seit mehr als vier Wochen ist die Grenzregion im Ausnahmezustand. Aber auch landesweit gab es in den vergangenen Wochen Proteste gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung. Bei Demonstrationen starben mindestens 31 Menschen.
Auch in Suruc wurden Demonstranten mit Tränengas und Wasserwerfern von Polizisten davongejagt. „Die AKP will uns Kurden tot sehen“, sagt Bürgermeisterin Ekmez. Warum sie das denkt? „Weil die Regierung uns hasst. Weil sie uns nicht als Menschen betrachtet“, antwortet sie. „Oder wie sonst ist es zu erklären, dass wir seit Jahrzehnten unterdrückt werden. Dass die Polizisten mit ihren Tränengasgeschossen direkt auf die Köpfe der Demonstranten zielen.“
Am Montag stimmte die Türkei zu, irakisch-kurdische Kämpfer über türkisches Gebiet nach Kobani durchzulassen. 200 Peschmerga-Kämpfer sollen Waffen von den irakischen Streitkräften erhalten. Doch diese Unterstützung für Kobani ist nun von anderer Seite bedroht. Denn der IS nahm in einer Großoffensive am Donnerstag das Gebiet westliche der Stadt ein und versucht Kobani vom Zugang zur Türkei abzuschneiden. Mit dem Verlust Kobanis und der umliegenden Region könnten die Kurden in Syrien ihre in den Wirren des syrischen Bürgerkriegs errungene Selbstverwaltung wieder einbüßen. Deshalb fordern viele Kurden in der Türkei, dass Ankara es auch ihnen erlaubt, die Grenze nach Syrien zu überqueren. Doch Ankara verweigert den Übertritt.
Bomben im eigenen Land
Die Türkei griff vergangene Woche erstmals seit Inkrafttreten einer Waffenruhe vor eineinhalb Jahren wieder Stellungen der PKK an. Laut Ankara handelte es sich um eine Vergeltungsmaßnahme, weil zuvor die PKK einen Posten türkischer Sicherheitskräfte angegriffen haben soll. Doch egal, wer wen wo zuerst attackierte – zurück bleibt der Eindruck, dass die Türkei die Kurden, statt sie im Kampf gegen den IS zu unterstützen, lieber im eigenen Land bombardiert.
In einem Krankenhaus in der Provinzhaupstadt Sanliurfa liegt ein Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG, des syrischen Ablegers der PKK, der in Kobani gegen den IS kämpft. Er erzählt, dass er es erst vor drei Tagen aus der kurdischen Enklave herausgeschafft hat. Ein Bauchschuss hat ihn verletzt, das sprechen fällt ihm schwer. Deswegen rasch nur zwei Fragen. Wie kommen die Kurden an neues Kriegsgerät? „Schmuggler bringen uns Handfeuerwaffen über die türkische Grenze“. Wie kann der IS in Nordsyrien gestoppt werden? „Die Türkei muss einen Hilfskorridor öffnen. Wir Kurden wissen, wie man kämpft, aber dazu brauchen wir Waffen.“ Dann sagt er noch: „Das sind keine Muslime, gegen die wir uns verteidigen. Das sind Monster.“
Für Bürgermeisterin Ekmez sind die Islamisten nur ein Vorwand der Regierung, um die Kurden zurückzudrängen. „Der IS tötet uns Kurden. Wenn Ankara interveniert, dann werden sie die Islamisten und uns Kurden umbringen“, sagt sie. Ekmez macht kein Geheimnis aus ihrer Sympathie für die PKK, die Ankara jetzt mit der Wiederaufnahme des Guerillakrieges drohten. Der türkische Staatspräsident setzte daraufhin den IS mit der PKK gleich. „So, wie die Türkei gegen die Terrororganisation IS ist, so ist sie auch gegen die Terrororganisation PKK“, sagte Recep Tayyip Erdogan.
Ekmez’ Bruder ist seit 19 Jahren im Gefängnis, weil er die Kurdenrebellen unterstütze. Die PKK wird in der Türkei, in Europa und den USA als Terrororganisation eingestuft. „Wenn es die PKK nicht geben würde, dann wären wir Kurden in der Türkei vielleicht schon alle tot“, sagt Ekmez. Furcht vor Repressalien für ihre PKK-Verherrlichung hat sie nicht. „Was soll uns denn noch passieren?“, fragt sie. „Wir sind verzweifelt. Die Regierung arbeitet kaum mit uns zusammen, weil wir Kurden sind. Die Kurden in Syrien aber misstrauen der AKP. Bald kommt der Winter, wir brauchen Unterstützung für all die Flüchtlinge.“
Normale Geräusche fehlen
Mittlerweile ist der Flüchtlingsstrom aus Syrien in die türkischen Städten weitgehend abgeebbt. An den Grenzen ist es viel ruhiger, als noch vor drei Wochen. Jetzt stehen ein Dutzend der Entkommenen auf den Hügeln nahe Kobani und schauen mit Ferngläsern in ihre umkämpfte Heimat. Sie warten darauf, dass Daisch – so lautet die arabische Bezeichnung für den IS – endlich vertrieben wird. In Sichtweite stehen ein Dutzend türkische Panzer, sie wurden winterfest gemacht. Ihre Schussrohre zeigen in viele Richtungen – aber nicht nach Kobani. Normale Geräusche wie Verkehrslärm, Musik oder Hunde fehlen hier auf dem Hügel. Zu hören sind lediglich die Gefechtsgeräusche von der gegenüberliegenden Seite.
Fragt man die Entkommenen, wie der IS zu stoppen sei, dann haben alle die gleiche Antwort parat. Der Konsens lautet: „Ankara hat den IS über Jahre hinweg mit Waffenlieferungen unterstützt. Deswegen misstrauen wir der Regierung. Sie soll nicht einmarschieren, aber einen Hilfskorridor öffnen.“ Die Flüchtlinge betonen, dass sie nicht die Türken, sondern die türkische Regierung für ihre Situation verantwortlich machen.
Laut Ankara sollen seit dem Vormarsch des IS in Nordsyrien 200.000 Syrer in die Türkei geflohen sein. Eine Zahl, die Ekmez für übertrieben hält. Sie geht von 60.000 aus. Die Rechnungen Ankaras seien ein Vorwand, um Kobani für ausgestorben zu erklären und somit einen guten Grund für eine Pufferzone zu haben. Mit dieser Pufferzone könne die Türkei dann das kurdische Autonomiegebiet in Nordsyrien kontrollieren.
Hinter Ekmez, auf dem Friedhof in Suruc, schüttet ein Bagger die Gräber zu. Frauen schnalzen mit ihren Zungen, so zeigen sie ihren Respekt vor den als Märtyrern Verstorbenen. Die acht leeren Särge liegen gestapelt am Rande des Friedhofs. Wenn irgendwann der Kopf der enthaupteten Frau nach Suruc gebracht werden sollte, dann will man sie auch hier beisetzen.
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