Tragikomödie „The Ordinaries“ im Kino: Schöne neue Filmwelt
Im Debütfilm von Sophie Linnenbaum stehen Hauptfiguren oben, Outtakes unten in der Rangordnung. Es ist eine Parabel auf soziale Ungleichheit.
Wer gewöhnlich ist, ist gescheitert. Daran, sich das Eigene zu erhalten und ein individuelles Leben zu führen. Zumindest wenn man es mit dem Philosophen Max Stirner hält, demzufolge alle Menschen als Original geboren werden, die meisten jedoch als Kopie sterben, hat jeder die Einzigartigkeit bereits in sich. Wer gewöhnlich ist, hat sich dieser also berauben lassen. Anders ausgedrückt: hat sich zum austauschbaren Statisten herabsetzen lassen, anstatt als Protagonist durch das eigene Leben zu gehen.
In der Welt, die Sophie Linnenbaum in ihrem Debütfilm entwirft, funktioniert das mit der Individualität anscheinend etwas anders: Wer Hauptfigur sein will, muss sich erst zu einer solchen ausbilden lassen. Und das nicht im übertragenen Sinne.
In „The Ordinaries“ ist die Gesellschaft in drei Schichten eingeteilt: Ganz oben stehen die Hauptfiguren, die eine eigene Storyline besitzen und über ein vielschichtiges Repertoire an Dialogzeilen sowie, vor allem, Emotionen verfügen. Unter ihnen sind die gesichtslosen Nebenfiguren, deren Sprachschatz sich auf wenige Sätze beschränkt und die nur zum Handeln fähig sind, wenn sich eine Hauptfigur in ihrer Nähe befindet. Eigene Szenen besitzen sie nicht, sie dienen lediglich als Staffage.
Den Bodensatz, der vom Rest gemieden wird, als handele es sich um eine Krankheit – unter den Bessergestellten hält sich hartnäckig das Vorurteil, dass ihr Zustand tatsächlich „ansteckend“ sei –, bilden die sogenannten „Outtakes“. Sie haben Schnittprobleme, sind Fehlbesetzungen und Überzeichnungen. Im schlimmsten Falle sind sie schlicht „schwarz-weiß“, Überkommene aus der Stummfilmzeit, die es gar nicht mehr geben dürfte.
„The Ordinaries“. Regie: Sophie Linnenbaum. Mit Fine Sendel, Sira-Anna Faal u. a. Deutschland 2022, 120 Min.
Meist arbeiten sie in Fabriken, etwa für Soundeffekte. Die 16-jährige Paula (Fine Sendel) im Zentrum der Handlung möchte sich denkbar weit von ihnen abgrenzen und nach ganz oben. Gute Voraussetzungen dafür bringt sie mit.
Schon der Vater war Hauptfigur
Sie besucht die Hauptfigurenschule, ist Klassenbeste im „Panischen Schreien“ und glänzt im Fach „emotionaler Monolog“. Dass ihr Letzterer derart gut gelingt, liegt an ihrem biografischen Hintergrund: Sie richtet ihre Worte an ihren Vater, der ihres Wissens eine rühmliche Hauptfigur war und bei einem Massaker, angeblich verübt durch aufständische „Outtakes“, zu Tode kam. Damit fügt Linnenbaum, die das Drehbuch mit Michael Fetter Nathansky verfasste, dem Szenario einen Aspekt hinzu, der „The Ordinaries“ zu mehr als einer Parabel über Klassismus allein macht.
Nicht nur die sozial-ökonomische Herkunft, auch die biologische Abstammung ist von Belang, wenn es darum geht, wo man in der Hierarchie verortet wird und ob man sich zum Aufstieg qualifiziert. Weil ihre Mutter (Jule Böwe) lediglich eine Nebenfigur ist, sind die väterlichen Wurzeln besonders wichtig. Ausgerechnet die Symbolik, die zur Verdeutlichung rassistischer Ausgrenzung genutzt wird, ist allerdings ziemlich plump geraten.
Während „The Ordinaries“ gerade durch die Originalität seiner Metaphern besticht, ebenso durch ihre reizvolle Doppeldeutigkeit – schließlich funktionieren sie sowohl als Kritik an gesellschaftlicher Ungleichheit als auch an der snobistischen Rangordnung zwischen den verschiedenen kreativen Bereichen innerhalb der Filmwelt –, verlässt man sich auf schablonenhafte historische Bildverweise und trägt unnötig zu ihrer Abnutzung bei. Etwa wenn Outtakes dazu gezwungen werden, sich in den hinteren Teil des Busses zu setzen oder in einer Art abgeriegeltem Getto untergebracht sind.
Paula taucht in ihre Schattenwelt ein, als sie feststellt, dass das Archiv des mächtigen Instituts, das streng über die soziale Ordnung herrscht, über keinerlei „Flashbacks“, und damit Erinnerungen, an ihren Vater verfügt. Hilde (Henning Peker) – Hausmädchen der regelmäßig in pathetische Musical-Einlagen ausbrechenden „Golden Age of Hollywood“-Familie ihrer besten Freundin Hannah (Sira-Anna Faal) – verschafft ihr als klassische „Fehlbesetzung“ Zugang, um dort mehr über ihren Vater herauszufinden.
„Herzleser“ für die passende musikalische Untermalung
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Trailer „The Ordinaries“
Vor allem visuell weiß „The Ordinaries“ bei der Suche seiner Protagonistin, in deren Rahmen vermeintliche Gewissheiten über ihre eigene Herkunft und die angebliche Gefährlichkeit der „Outtakes“ hinterfragt werden, zu beeindrucken. Die Detailverliebtheit des Szenenbilds von Max-Josef Schönborn überrascht umso mehr, da es sich um einen Abschlussfilm handelt, mit dem Linnenbaum ihr Studium an der Filmuniversität Babelsberg beendet.
Auch Einfälle wie der „Herzleser“, eine über der Brust angebrachte Apparatur, über die nur Hauptfiguren verfügen dürfen, die ihre Stimmung in die passende musikalische Untermalung ihrer Szenen übersetzt, sind überaus charmant. Umso bedauerlicher ist es, dass sich das Drama mit Voranschreiten der zweistündigen Spielzeit immer weiter selbst vereindeutigt und schließlich in eine melodramatische Auflösung mündet, deren Aussage nicht über Gemeinplätze hinausgeht. Bei ihrer Abschlussprüfung klingt aus Paula grandiose Musik, obwohl sie das, wie der Zuschauer dann weiß, gar nicht dürfte.
Damit ist „The Ordinaries“ am Ende ein klares Plädoyer gegen jede Form der Diskriminierung, das aber zu forciert daherkommt, um tatsächlich zu berühren. Letztlich ist man so doch bei einer simplen Wohlfühl-Variante von Max Stirners eher offensiv-aufklärerischer Mahnung angelangt, die den Einzelnen zu sehr aus der Verantwortung entlässt: Wir alle sind Hauptfiguren. Auf dass uns nur niemand das Gegenteil einrede!
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