Tourismus in der Türkei: Winterschlaf im Sommer
In den Restaurants des türkischen Badeorts Marmaris stapeln sich die Stühle. Die Reisewarnung hat den Tourismus praktisch stillgelegt.
E in einsamer Kübel mit einer halb vertrockneten Palme, das ist alles, was von der einstigen Pracht des schönsten Restaurants an der Promenade in Marmaris übrig geblieben ist. Der leichte Wind wirbelt ein paar vertrocknete Blätter durch das Areal. Wo im Jahr zuvor edel gedeckte Tische allabendlich die Gäste anzogen, herrscht nun die große Leere. Tische und Stühle im „Aquarium“ stapeln sich im Innern des Gebäudes, die Besatzung des Restaurants scheint gänzlich verschwunden zu sein. Ein paar Meter weiter, bei „Jan de Witt“, stehen zwar ein paar Stühle vor der Tür, doch außer einem putzenden jungen Mann, der die Gaststätte auf das in Coronazeiten vorgeschriebene Hygieneniveau zu bringen gedenkt, ist auch hier niemand zu sehen.
„Natürlich“, sagte der junge Mann mit dem Namen Mehmet, „gab es auch in den letzten Jahren immer mal wieder Krisen.“ Er erinnert sich an den Einbruch im Tourismus nach dem Putschversuch vor vier Jahren. Eine solche Situation wie jetzt aber „gab es noch nie“. Das traditionsreiche „Jan de Witt“, seit 50 Jahren eine feste Adresse an der Promenade von Marmaris, könnte diese Krise vielleicht nicht überleben. „Wir haben laufende Kosten, Miete, Elektrik, und der Staat hilft nicht. Ohne Einnahmen, also ohne Touristen aus Europa, können wir das nicht mehr lange bezahlen“, sagt Mehmet.
Mehmet, Restaurant-Angestellter
Marmaris wirkt wie nach einem Angriff mit einer Neutronenbombe. Die Gebäude stehen alle noch, die leeren Ausflugsboote dümpeln am Pier, nur die Menschen fehlen. Als sich der Holländer Jan de Witt vor 50 Jahren in Marmaris verliebte und beschloss, hier ein kleines Restaurant zu eröffnen, war der Ort nicht mehr als ein Fischerdorf an einer großen geschützten Bucht, die, fast ganz vom Meer abgeschlossen, ideale Bedingungen für ankernde Schiffe bot.
Diese Lage hatte dem Dorf schon einmal für einen Moment einen Platz in der Weltgeschichte gesichert, damals, als Sultan Süleyman im Jahre 1522 hier seine Flotte versammelte, um die Ritter des Johanniterordens auf der Marmaris vorgelagerten Insel Rhodos anzugreifen. Nachdem Rhodos erobert und wenig später Teil des osmanischen Imperiums wurde, versank Marmaris wieder in der Geschichte.
Das änderte sich erst, als Leute wie Jan de Witt in den 1960er Jahren mit ihren Yachten, wiederum von Rhodos kommend, die wunderbar geschützten Ankerplätze in der Bucht entdeckten. Ausgehend von diesen Segel-Enthusiasten entstand in dem Ort eine der größten Segel-Marinas im östlichen Mittelmeer. Die wenigen Gebäude, die sich bei der Ankunft der ersten Segler noch malerisch um die von Süleyman erbaute Burg schmiegten, gehen heute in einem Häusermeer unter. Fast 40.000 Menschen, von denen der ganz überwiegende Teil im Tourismus beschäftigt ist, leben heute hier, in einem normalen Sommer kommen eine halbe Million Urlauber hinzu.
Im Anschluss an die Promenade, die sich um die Burg bis zum Yachthafen entlangschlängelt, haben die Stadtväter vor 20 Jahren, als der Besucherandrang immer größer wurde und auch Kreuzfahrtschiffe die Bucht anzulaufen begannen, einen überdachten Basar für die Touristen bauen lassen. Am Rande hat Can Dorukoğlu seinen Juwelierladen. Viele goldene Armreifen hängen im Schaufenster, wie sie vor allem zu Hochzeiten verschenkt werden und die die „Deutschländer“, also in Europa lebende Türken, gewöhnlich gerne aus ihrem Urlaub mitbringen, weil Gold in der Türkei ja angeblich viel billiger ist.
Doch in diesem Jahr hat Dorukoğlu kaum etwas verkauft. „Die Hotels, in denen die großen Hochzeiten gefeiert werden, sind geschlossen und die Türken aus Europa können in diesem Jahr auch nicht kommen“, erzählt er. „Hat die EU ihnen verboten.“ Das stimmt zwar nicht so ganz, doch tatsächlich liegt das Geschäft darnieder.
Der smarte Mittdreißiger Dorukoğlu ist gemeinsam mit Marmaris groß geworden. Aus der kleinen Klitsche seines Vaters hat er einen schicken Laden gemacht, zudem besitzt er noch ein Hotel. Gerade überlegt er, das Hotel in diesen Tagen wieder zu öffnen. „Vielleicht kommen ab 15. Juli wenigstens ein paar Engländer“, hofft Dorukoğlu. In Marmaris hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Briten die Saison vielleicht noch retten könnten. „England gehört ja nicht mehr zur EU“, sagt er, „und die Engländer lieben Mamaris“.
Murat, Ladenbesitzer im Touristenbasar von Marmaris
Murat glaubt dagegen nicht mehr daran, dass die Briten noch kommen. Er sitzt im Basar vor seinem Laden mit Sommerkleidern und träumt vor sich hin. „Ich hätte nicht aufmachen müssen, es kommt sowieso keiner“, sagt er. „Doch was soll ich zu Hause sitzen, da langweile ich mich nur. Hier kann man wenigstens mit den Kollegen plaudern.“ Viele sind allerdings nicht da, rund zwei Drittel aller Läden sind geschlossen, an einigen hängen bereits Schilder „Satılık“ – zu verkaufen. „Dieses Jahr kannst du vergessen“, meint Murat. „Viele werden pleitegehen.“ Auf die Zukunft von Marmaris angesprochen, schüttelt er den Kopf. „Marmaris ohne Touristen ist wie ein Motor ohne Sprit“, sagt er. „Wir werden Jahre brauchen, um uns von diesem Desaster zu erholen.“
Im Westen der Stadt, auf der dem Yachthafen und dem Basar gegenüberliegenden Seite der Bucht, ziehen sich wie an einer Perlenkette aufgereiht die Hotels am Strand entlang. Je weiter weg vom Zentrum, dort wo der Wald noch bis ans Ufer reicht, desto luxuriöser erscheinen die Anlagen. Can Durukoğlu, der Juwelier mit seinem angeschlossenen Hotel, will gehört haben, dass von den rund 300 Hotels in Marmaris nur ganze 18 geöffnet sind. Von den geschlossenen Hotels sehen die meisten so aus, als würden sie in diesem Jahr auch nicht mehr öffnen.
Die Zahlen In der Türkei sind bis zum Dienstag 207.897 Corona-Infektionen registriert worden, etwa 5.300 Menschen sind verstorben. Regionale Schwerpunkte sind der Raum Istanbul und der Osten des Landes. Zum Vergleich: Deutschland registrierte bis zum Mittwoch 197.341 Infektionen bei 9.036 Todesfällen.
Die Auflagen Cafés, Restaurants, Strände und Sportanlagen sind unter Auflagen wieder geöffnet. Die Grenzen sind offen, der Flugverkehr wieder aufgenommen. Bei der Einreise werden Temperaturmessungen durchgeführt. Für Menschen über 65 Jahre gilt eine Ausgangssperre von 20 bis 10 Uhr, die nicht immer beachtet wird.
Die Reisewarnung Für die Türkei gilt – wie für fast alle Nicht-EU-Staaten mit Ausnahme von 14 Ländern – eine Reisewarnung des Auswärtigen Amts. Außerdem hat die Bundesregierung das Land zusammen mit 125 anderen Staaten als Coronarisikogebiet eingestuft. Rückkehrer nach Deutschland müssen damit rechnen, dass sie 14 Tage in Quarantäne müssen, es sei denn, sie können einen aktuellen negativen Coronatest vorweisen.
Der Tourismus Durch die Coronapandemie sind die Tourismuszahlen in der Türkei eingebrochen. Im Mai kamen rund 30.000 Besucher in das Land und damit 99,26 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Der Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige. 2019 besuchten 51,9 Millionen Urlauber das Land, die Einnahmen daraus betrugen 31,1 Milliarden Euro. Knapp 8 Prozent aller Beschäftigten arbeiteten bisher in der Branche. (taz)
Ein typischer Fall ist das erst vor zwei Jahren eingeweihte „Green Nature Diamond“. Der Zugang vom Strand in die großzügige Hotelanlage ist verrammelt, die gewöhnlich kurzgeschorenen Rasenflächen haben sich jetzt zu einen verwilderten Park entwickelt. Ein einzelner Wachmann ist alles, was von der gewöhnlich 300-köpfigen Belegschaft des Hotels noch da ist.
Der Komplex gehört einem türkischen Geschäftsmann, der hier eine Bettenburg mit 700 Zimmern hat bauen lassen – nicht die oberste Luxusklasse, aber doch topmodern, so wie TUI und die anderen Reiseveranstalter es lieben. Nur dass die Reiseveranstalter in diesem Jahr eben keine Gäste schicken. Ein Totalausfall für den Besitzer wie für die Angestellten. Alle Angestellten sind in dieser Saison erst gar nicht aus ihren Dörfern nach Marmaris gekommen, erzählt der Wachmann: „Was sollen sie hier auch. Sie müssten ja auf der Straße schlafen“.
Fast alle Luxushotels sind geschlossen
Von den zehn Top-Luxushotels sind bis aufs eines alle geschlossen. Das „Grand Yazıcı“, in dem im Sommer 2016 der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit seiner Familie urlaubte, als in Ankara der Putsch ausbrach, ist genauso verrammelt wie das Green Nature. Das „Grand Yazıcı“ ist weit über Marmaris hinaus berühmt geworden, weil eine Kommandoeinheit der Putschisten hier mit Hubschraubern landete und wild um sich schoss, um Erdoğan zu kidnappen. Der war zu dem Zeitpunkt allerdings längst weg. Doch auch diese Bekanntheit hilft in dieser Saison nichts. Alles ist geschlossen.
Nur die Nachbaranlage, die „Möwe“, hält als einziges der Luxushotels seine Türen offen. „Wir haben für unsere Stammgäste geöffnet“, sagte der Geschäftsführer einer lokalen Radiostation. „Wir haben seit vielen Jahren Gäste aus Istanbul und Ankara, die auch in diesem Jahr kommen wollten.“ Lohnen würde sich der Aufwand für das Management aber nicht, von den 250 Zimmern seien nur 50 belegt. Doch die Gäste fühlten sich wohl. „Die Hygienestandards sind vorbildlich“, meinte ein Familienvater im Radiointerview, alles sei supersauber, desinfiziert, „und am Strand stehen die Liegen fünf Meter auseinander“.
Die „Möwe“ ist typisch für diese Saison. Glücklich werden nur solche Plätze, die auf inländische Urlauber setzen. Am schlimmsten hat es in diesem Sommer die Bettenburgen an der Türkischen Riviera in der Region zwischen Antalya und Alanya getroffen, wohin es normalerweise die meisten der fünf Millionen deutschen Urlauber zieht. Dort stehen die All-inclusive-Hotels, die ausschließlich vom ausländischem Massentourismus leben, nahezu alle gähnend leer.
Die Ausnahmen: Orte, wo Einheimische Urlaub machen
In der Türkischen Ägäis dagegen gibt es durchaus Orte, die sogar besser besucht sind als in den letzten Jahren. In Çeşme auf der Halbinsel vor Izmir gegenüber der griechischen Insel Chios etwa, in den kleineren exklusiven Orten auf der Bodrum-Halbinsel, wohin es die türkischen Stars und Sternchen zieht, in Göcek bei Fethie, wo reiche Türken ihre Yachten parken, und auf der Datça-Halbinsel: Dort, wo überwiegend Einheimische ihren Urlaub verbringen, tummeln sich manchmal sogar mehr Menschen als in den Vorjahren. Denn genauso wie die Deutschen machen auch die Türken in dieser Saison vor allem Urlaub im eigenen Land. Auslandsreisen sind nahezu unmöglich, und so wie die Europäer nicht in die Türkei kommen, kommen auch türkische Urlauber nicht in die Europäische Union.
„Wir vermissen die Türken“, betitelte die Tageszeitung Hürriyet vor einigen Tagen eine große Reportage ihres Griechenland-Korrespondenten Yorgo Kırbaki. Während sonst in Griechenland Türken überwiegend als Bedrohung wahrgenommen werden, hat man dort plötzlich die Liebe zu den Nachbarn entdeckt. Vor allem auf den griechischen Dodekanes-Inseln entlang der türkischen Küste, von Rhodos über Simi, Kos bis nach Samos machen sich die fehlenden türkischen Urlauber schmerzhaft bemerkbar. Obwohl Rhodos aus West- und Nordeuropa wieder angeflogen wird, ist die historische Altstadt genauso ausgestorben wie Marmaris. Fast alle Läden auf der Sokrates-Street, der Shopping-Meile in der Altstadt, sind geschlossen. Der Bürgermeister der Nachbarinsel Simi, Lefteris Papakalodukas, deren fjordähnlicher wunderschöner Hafen normalerweise voller türkischer Yachten liegt, barmte im Gespräch mit Yorgo Kirbaki, er vermisse seine türkischen Freunde sehr. „Ein türkischer Gast gibt im Fisch-Restaurant mindestens so viel aus wie drei deutsche Touristen“, bekannte er.
Tatsächlich leiden beide Seiten in der Ägäis gleichermaßen unter den coronabedingten Grenzschließungen. Das zeigt sich auch in Bozburun, einem versteckten Ort an der Spitze einer Halbinsel, die wie ein Daumen auf das kleine griechische Simi zeigt. Der gut eine Autostunde von Marmaris entfernte Ort ist berühmt für seine Gulets genannten, aus Holz gebauten dickbauchigen Motorsegler, die früher als Transporter für die Küstenschifffahrt dienten und heute zumeist für sogenannte blaue Reisen genutzt werden. Dabei schippern die Urlauber entspannt von Bucht zu Bucht, schwimmen, schnorcheln oder angeln und lassen sich am Ende des Tages ein opulentes Essen servieren – kurz, ein Blaue-Reise-Boot ist eine Art schwimmende Wellness-Oase, die es zu chartern gibt – mit sehr einfacher Unterbringung bis hin zu ausgesprochen luxuriösen Kabinen.
Früher einmal lebten die Familien von Bozburun vom Fischfang oder dem Schwammtauchen. Heute betreibt nahezu jede ein solches Gulet und kann davon meist recht gut leben. Da man ein solches Boot, das in der Regel Platz für 8 bis 14 Personen bietet, gut für die ganze Großfamilie chartern kann, sind solche Touren gerade jetzt in Coronazeiten sehr beliebt. Man bleibt unter sich – die Crew ist getestet – und geht kein Risiko ein.
Im Gegensatz zu Marmaris ist Bozburun deshalb relativ gut besucht. Nur mit ausländischen Touristen gibt es Probleme, so wie überall. Kapitän Kemal, ein drahtiger 60er, der ein Schiff mit seinen beiden Söhnen betreibt, hat italienische Stammgäste, die seit Jahren einen Rhodos-Urlaub mit einer blauen Reise auf seiner Holzyacht „Kim Bu“ kombinieren. Jetzt liegt sein Motorsegler als letzter am Pier, weil die Italiener auf Rhodos festsitzen und nicht mit der Fähre nach Marmaris übersetzen dürfen. Er wiederum darf sie nicht auf Rhodos abholen.
„Da hat uns die EU ganz schön was eingebrockt“, erzählt er angefressen. Mehrere tausend Euro muss er abschreiben. Doch insgesamt geht es den Bozburunern gut. „Die betuchteren türkischen Familien, die sonst eher ins Ausland fahren, sind in diesem Jahr alle bei uns“, freut sich ein Kollege von Kemal. „Das kann in den nächsten Jahren ruhig so bleiben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen