Totalverweigerer bei der Bundeswehr: Einer verweigert den Gleichschritt
Am Sonntag geloben 500 Rekruten vor dem Reichstag Treue. Derweil sitzt der Totalverweigerer Silvio Walther in Bundeswehrarrest. Vier Wochen war er auf der Flucht.
Es ist ein einsamer Gang. Und ein starker. Einmal blickt er sich noch um, dann öffnet sich das Tor. Grau ist es, matt lackiert und abgegriffen, unzählige Soldaten haben es schon passiert. Es ist Donnerstagabend, 20.57 Uhr, Nonner Straße, Bad Reichenhall. Silvio Walther passiert das Kasernentor der General-Konrad-Kaserne des 5. Gebirgsfernmeldebataillons 210. Es regnet.
Das Gelöbnis: Am Sonntag legen 500 Bundeswehr-Rekruten ihr Gelöbnis vor dem Berliner Reichstag ab: "Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen."
Der Ort: Seit 1999 findet das sogenannte Feierliche Gelöbnis am 20. Juli, dem Jahrestag des Attentats auf Hitler, im Berliner Bendlerblock statt. Damit soll sich die Armee in die Tradition des Widerstands gegen Hitler stellen. In diesem Jahr geloben die Rekruten erstmals vor dem Reichstag. Der Ort soll die Nähe der Armee zu Parlament und Volk unterstreichen. Ein anderer Grund ist, dass im Bendlerblock derzeit eine Baustelle präpariert wird - für ein Ehrenmal.
Der Protest: Zwei Gegendemos sind angemeldet. Deshalb und weil es bisher stets Störungen gab, werden 1.800 Polizisten die Veranstaltung bewachen.
Silvio Walther ist derzeit der einzige Totalverweigerer in der Bundeswehr. Vier Wochen lang war der 21-Jährige auf der Flucht vor den Feldjägern. Er weiß: Hinter diesem Tor wartet die Einzelzelle. 31 Tage hat er darin schon verbracht, ehe er getürmt ist. Er weiß nicht, wann er wieder in Freiheit kommt. Und an wie vielen Tagen er wieder einsam in seiner Zelle das Lied von Marius Müller-Westernhagen vor sich hin singen wird: "Freiheit". Das ist sein Lied auf sieben Quadratmetern. In der mintgrün gestrichenen Zelle 5.
Es ist 1.45 Uhr, in der Nacht davor. In der Bensheimer Kneipe läuft Bob Dylans "Blowing in the Wind". Silvio Walther kennt nur die deutsche Version von Juliane Werding, seine Mutter hört sie immer. Die Wirtin bringt das zweite Bier. Silvio Walther ist noch einmal in seinen südhessischen Heimatort gekommen, für eine Nacht. Er will sich von seiner Mutter verabschieden. In den Wochen zuvor war er in der ganzen Republik unterwegs, bei Freunden. Inkognito. Jetzt sitzt er in der Kneipe, in der er früher Kicker und Darts gespielt hat. Er raucht eine Zigarette nach der anderen, erzählt von seinen Lieblingsbüchern, Sciencefiction, dass er keltische Sagen, Metal Music und Männer liebt. Es ist sein vorerst letztes Bier. Morgen wird er sich stellen. Hat er Angst? "Angst habe ich nur vor Waffen."
Mit Waffen hat er es zu tun bekommen, ehe er aus Bad Reichenhall abgehauen ist. In der Kompanie, die ihn seit April als "Funker" führt, hat er schon viel Zeit im Arrest verbracht. 31 Tage saß Walther in Zelle 5. Und sang von der Freiheit. Er wäre auch geblieben, sagt er, wäre da nicht die Sache in Berchtesgaden passiert.
"Berchtesgaden" ist ein Wort, das Walther nervös macht. Dort hat er, zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben, einen Befehl ausgeführt, wie er sagt. Was er noch sagt: unter Androhung von Schusswaffengewalt. Er erinnert sich: Auf den Tag genau zwei Monate ist es her, dass zwei Soldaten in Walthers Zelle kamen und sagten: "Jetzt gehen wir spielen." Das war am 17. Mai 2008, Walther war vorübergehend in Berchtesgaden inhaftiert. Doch aus dem Spiel wurde Ernst. Unter Waffenbegleitung führten die Soldaten den Häftling zu einem nahe gelegenen Parkplatz. Dort gaben sie ihm, wie sie das nannten, "die schöne Aufgabe", den Müll aufzusammeln. Es war ein Befehl. Walther verweigerte ihn, wie immer.
Glaubt man dem Totalverweigerer, legte einer der Soldaten den Finger auf den Abzug seines Gewehres, hob den Lauf demonstrativ an und betonte: "Befehl ist Befehl." "Da bekam ich zum ersten Mal Angst. Denn ich wusste nicht, was als Nächstes kommt", sagt Walther heute. Er gehorchte. Und sammelte mit bloßen Händen den Müll ein, Plastikflaschen, gebrauchte Tampons.
Sechs Tage später erschien Walthers Kompaniechef bei ihm, in der Hand eine Verschwiegenheitserklärung. Walther sollte unterschreiben, "explizit" über den Vorfall in Berchtesgaden Stillschweigen zu bewahren. Er unterschrieb. Jetzt redet er.
Dies sind Szenen einer Heldengeschichte ohne Gleichschritt. Wann sie begann? Vielleicht im Förderzentrum in Gera, wo der kleine Silvio damals Klassensprecher wurde? Oder nach dem Umzug, in der Sonderschule in Bayern, wo er trotz Ossi-Witzen und Hänseleien wegen seines Thüringer Dialekts seinen Hauptschulabschluss mit 1,7 feierte? Womöglich in der Betriebshalle von Suzuki, wo sich der Hilfsarbeiter Walther für die Wahl einer Vertrauensperson einsetzte, der sich auch Kolleginnen anvertrauen könnten?
Vielleicht setzt sich Silvio Walthers persönliche Heldengeschichte auch erst fort, wenn er wieder zurückkommt: in sein Leben, in seine Freiheit. Wenn er aussteigt aus dem Zug, in Bensheim, wenn er nach Hause geht und endlich das Lied hören kann, das er dann hören möchte: "A hero comes home". So heißt sein zweites Lied.
Doch vorerst muss Silvio Walther sein eigener Held bleiben. Wenn am Sonntag in Berlin 500 Rekruten Tapferkeit und Treue geloben, wird er in der Zelle sitzen. Nicht freiwillig, nicht gerne. Aber lieber. "Ich gelobe gar nichts", sagt Walther. Auf seinem T-Shirt steht: "Für Vaterland und Ehre? Ich bin doch nicht blöd!"
Blöd ist er auch nicht. "Ich will mich nicht zu etwas ausbilden lassen, das töten können soll", schrieb er bereits vor Dienstantritt an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe (SPD), und lud ihn bereits vorsorglich in seine Arrestzelle ein. Bisher ist Robbe nicht gekommen. Auch nach dem Vorfall in Berchtesgaden nicht. Doch Robbe prüft den Fall. Aus seinem Büro heißt es: Zu laufenden Verfahren keine Stellungnahmen. Auch das Heer hat die Untersuchungen gegen die Wachsoldaten aus Berchtesgaden aufgenommen. Zwar will sich der Heeressprecher nicht abschließend äußern, doch der taz sagte er: "Es ist vermutlich so, dass es so war." Der Verteidigungsausschuss im Bundestag und das Verteidigungsministerium sind informiert.
"Ich bin Demokrat", sagt Silvio Walther, "und ich bekenne mich absolut zur Verfassung." Er meint Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit.
Warum leistet er dann nicht einfach Zivildienst, wie über 80.000 andere Männer jährlich auch? "Zivildienst ist für mich auch ein Kriegsdienst. Im Kriegsfalle müsste ich kriegsunterstützende Arbeiten leisten. Und dazu bin ich nicht bereit." Im Kriegsfall? Ist das nicht abstrakt? "Das ist nicht abstrakt, sondern konkret. Die Bundswehr befindet sich im Krieg."
Dass die Bundeswehr das anders sieht, liegt auf der Hand. Aus dem Verteidigungsministerium heißt es: Das Grundgesetz sieht eine "sogenannte" Totalverweigerung nicht vor. Wer nicht an der Waffe dient, muss - zumindest theoretisch, denn die Praxis sieht anders aus - zivil dienen. Deshalb erkennt das Ministerium den Begriff nicht an, er vertrage sich nicht mit der Verfassung. So wird aus Silvio Walthers Gewissensentscheidung ein verfassungsfeindlicher Akt.
Dementsprechend wirft das für Walther zuständige Truppendienstgericht Süd in einem Beschluss, der der taz vorliegt, dem Verweigerer vor, er stelle seine Argumente lediglich als seine Gewissensentscheidung dar. Wer so widerspenstig ist, kann kein Gewissen haben.
Das ist der Umgang mit einem Thema, das die Bundeswehr bis heute herausfordert: Junge Männer, die auf ein Recht pochen, keinen Kriegsdienst - weder Wehr- noch Ersatzdienst - zu leisten. Gar nichts. Keine Waffen. Kein Gelöbnis. Und die dafür in den Knast gehen. 2007 gab es drei von ihnen. 2008 auch. Derzeit gibt es nur einen einzigen Totalverweigerer: Silvio Walther.
Es wird immer wieder junge Männer wie ihn geben. Ihnen drohen Strafverfahren, Sozialstunden, Geldbußen, Freiheitsstrafen. Im Höchstfall bis zu drei Jahre wegen Gehorsamsverweigerung. Bis zu fünf Jahre wegen Fahnenflucht. Es wirkt bizarr, wie treffsicher Walthers Geschichte eine Geschichte des Rückgrats ist. Statt zur Truppe steht er treu zu sich. Und sagt: "Mit jedem meiner Arreste wird das Interesse der anderen Soldaten an meiner Haltung größer."
Auf seiner Stube könnte er jetzt viel erzählen. Von vier Wochen "eigenmächtiger Abwesenheit", wie er es nennt, mit der er auf den Vorfall in Berchtesgaden aufmerksam machen wollte. Er könnte auch erzählen, dass er nun nachts meist wach liegt, oft nur noch zwei Stunden schläft. Und von der Unterstützung, die er durch seinen Freund Alexander Hense erfährt. Der Totalverweigerer aus dem letzten Jahr hat ihn gestern noch besucht.
Hat Walther Zweifel? "Nein, die gibt es nicht. Das Militär kann mich nicht mehr erziehen. Ich nehme das hier mit Humor."
Dreimal hat er für seine Art von Humor schon eingesessen. Erst 7, dann 10, dann 14 Tage war er in der Einzelzelle. Wenn er an diesem Donnerstagabend durch Bad Reichenhall zur General-Konrad-Kaserne geht, vorbei an den Seniorenresidenzen und Kurvillen, wandert er in den nächsten Arrest. Weitere 21 Tage, wieder wegen Befehlsverweigerung. Walther fordert seine sofortige Freilassung. Doch die Verurteilung wegen eigenmächtiger Abwesenheit steht noch aus. Dann könnten weitere 21 Tage auf ihn warten. Danach hätte er 73 Tage Disziplinarhaft hinter sich, beinahe doppelt so viel, wie es ein Erlass des Bundesverteidigungsministeriums vom April vorsieht: 42 Tage sollen solche wie Walther mindestens per Arrest diszipliniert werden - um ihr Gewissen zu prüfen. Ob erfolgreich oder nicht - danach könnten sie entlassen und an den Staatsanwalt übergeben werden.
Bei Silvio Walther besteht noch Hoffnung: Disziplinieren soll ihn die Zeit in Einzelhaft, zurückbringen auf den Boden des Grundgesetzes. Zurück auf den rechten Weg. Das wäre der Weg zurück in die Kompanie.
Silvio Walther lässt das Kasernentor hinter sich ins Schloss fallen. Jetzt geht er weiter. Er dreht sich nicht mehr um. Auf der regennassen Straße spiegelt sich der Schein der Straßenlaternen. Die Figur des Deserteurs wird kleiner. Er biegt ums Eck.
Seit gestern sitzt er wieder in Einzelhaft. Als sei Silvio Walther noch zu disziplinieren.
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