Tötung Osama bin Ladens und Völkerrecht: Der Tod ist immer eingeplant
Deckt das Vökerrecht die Tötung bin Ladens? Die USA verstießen oft gegen Rechtsnormen. Barack Obama sollte alle Fakten offenlegen.
GENF taz | "Wir werden Osama bin Laden kriegen, tot oder lebendig!" Das versprach US-Präsident George W. Bush am 17. September 2001, sechs Tage nach den Anschlägen von New York und Washington. Jetzt ist der Al-Qaida-Chef tot, doch ungeklärt ist, ob seine Tötung im Einklang mit dem Völkerrecht erfolgte.
Klar scheint inzwischen, dass die US-Kommandoaktion auf pakistanischem Territorium ohne Vorwissen und Genehmigung der Regierung in Islamabad stattfand. Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Wichtiger aber ist die Frage nach den genauen Umständen der Tötung: Wurde der Al-Qaida-Chef bei einem Gefecht erschossen, bei dem er selbst eine Waffe einsetzte? Oder hat die Spezialeinheit bin Laden nach Ende des Gefechts und unter Missachtung des Völkerrechts durch Kopfschuss hingerichtet, anstatt ihn gefangen zu nehmen und vor ein US-Gericht zu bringen?
Barack Obama ließ in seiner Rede beide Möglichkeiten zu. Wörtlich sagte er: "Nach einem Feuergefecht töteten sie Osama bin Laden und bemächtigten sich seiner Leiche." Laut einem hochrangigen Mitglied der Obama-Regierung "leistete bin Laden Widerstand und wurde in den Kopf geschossen". Es wäre gut, wenn man sich bald auf eine einheitliche Sprachregelung einigte.
Seit 9/11 haben die USA oft gegen das Völkerrecht verstoßen
Die Frage nach der Völkerrechtskonformität dieser Tötung stellt sich aber nicht nur wegen dieser Ungereimtheiten, sondern auch wegen der Vorgeschichte. Denn seit Beginn des "Krieges gegen den Terrorismus", den Präsident Bush nach dem 11. September 2001 ausrief, haben seine Regierung und die seines Nachfolgers Obama in vielfacher Weise und zum Teil präzedenzlos gegen die Genfer Konventionen und andere Bestimmungen des humanitären Völkerrechts (oder: Kriegsvölkerrechts) verstoßen.
Die Bush-Regierung rief den nationalen und globalen Notstand aus und stufte mutmaßliche Terroristen und ihre Verbündeten als "gesetzlose Kämpfer" ein, für die das internationale Recht und die amerikanische Verfassung keine Geltung hätten.
Mit dieser völkerrechtswidrigen Klassifizierung ihrer Feinde im "Krieg gegen den Terrorismus" rechtfertigten die Regierungen Bush und Obama die Entführung und Verschleppung hunderter Personen. Über 2.000 Menschen wurden seit 2001 in Guantánamo und anderen Lagern jahrelang inhaftiert - ohne Prozess, ohne anwaltlichen Beistand. Auch dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz versagte Washington lange den Zugang zu diesen Gefängnissen. Das Foltern von Häftlingen galt der Bush-Regierung als unverzichtbares Mittel im "Krieg gegen den Terrorismus". George W. Bush verteidigt diese Praktiken bis heute als legitim.
Ob der von der Obama-Regierung forcierte Drohneneinsatz zur gezielten Tötung mutmaßlicher Al-Qaida-Kämpfer ein legitimes Mittel ist, ist bei Völkerrechtlern umstritten. Konsens ist aber, dass die Erschießung von Kämpfern, die sich bereits ergeben haben, in jedem Fall ein eindeutiger Verstoß gegen die Genfer Konventionen ist. Danach darf ein "Kombattant" nur angegriffen werden, wenn er sich bewaffnet als solcher zu erkennen gibt und "unmittelbar" an Feindseligkeiten teilnimmt.
Eine "Hinrichtung" ist nicht erlaubt
Die "Hinrichtung" eines mutmaßlichen Verbrechers ohne Verfahren untersagt auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966. Die bisherigen Völkerrechtsverstöße der USA im "Krieg gegen den Terrorismus" sind jedoch kein Beweis, dass auch bei bin Ladens Tötung völkerrechtswidrig vorgegangen wurde. Doch es läge im Interesse der USA, alle Fragen zu den Umständen der Tötung so rasch wie möglich zu beantworten, um Verschwörungstheorien und Legenden zu verhindern.
Laut einem US-Regierungsvertreter wurde die Kommandoaktion per Kamera live ins CIA-Hauptquartier übertragen. Dieser Film sollte veröffentlicht werden. Zudem ist zu erklären, warum keine forensische Untersuchung bin Ladens stattfand. Erforderten die muslimischen Bräuche tatsächlich, dass der Tote so schnell und unwiederbringlich im Meer beseitigt wird? Islamische Gelehrte widersprechen dieser Behauptung Washingtons. Schließlich sollte die Obama-Regierung dafür sorgen, dass keinerlei Zweifel an der Identität des Getöteten bleiben, und daher die Ergebnisse des DNA-Tests veröffentlichen.
Es wird sich nicht alles aufklären
Es ist gut möglich, dass diese Fragen nie restlos und befriedigend beantwortet werden. Das war in der Vergangenheit fast bei allen Gewaltkonflikten der Fall, in denen die Frage der Verletzung oder Einhaltung des Kriegsvölkerrechts umstritten war. Das Dilemma – diejenigen, die mutmaßlich einen Verstoß begangen haben, verfügen in der Regel auch über die Informations-und Interpretationshoheit. Neben den Mitgliedern der amerikanischen Spezialeinheit sowie möglicherweise einigen der von ihr festgenommenen Personen gibt es bei für Tötung keine Zeugen.
Dasselbe gilt auch für die mutmaßliche Tötung eines Gaddafi-Sohnes vergangene Woche. Ob sich, wie die Nato behauptet, in dem zerstörten Gebäude in Tripolis eine Kommandozentrale befand, also ein "legitimes" militärisches Ziel, wird kaum jemand eindeutig widerlegen können.
Seien es die Kriege im Irak, in Exjugoslawien, in Afghanistan, Tschetschenien oder im Gazastreifen: Nur bei ganz wenigen der Gewaltkonflikte seit Ende des Kalten Krieges konnten mutmaßliche Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht - ob durch den Beschuss ziviler Ziele, durch die Ermordung von Gefangenen oder durch den Missbrauch von Zivilisten zum Schutz militärischer Objekte - eindeutig nachgewiesen werden. Und in noch weniger Fällen wurden diese Verstöße auch strafrechtlich geahndet. Das Kriegsvölkerrecht ist der Kriegspraxis nicht gewachsen.
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