Tod nach Polizeigewahrsam in Hamburg: Was geschah auf der Wache?
Die psychisch kranke Dagmar R. starb nach einem Herzstillstand auf einer Polizeiwache. Ihr Bruder fordert, dass der Fall aufgeklärt wird.
Die 49-Jährige befand sich nach Angaben der Polizei in einem „psychischen Ausnahmezustand“, als sie von den Einsatzkräften in Neuallermöhe Anfang Februar auf die Bergedorfer Polizeiwache 43 geführt wurde. Gegenüber Passant:innen soll sie Suizidabsichten geäußert haben. Was anschließend auf der Wache geschehen ist, kann durch vorliegende Dokumente, zwei Polizeipressemeldungen und eine kleine Anfrage an den Senat nicht lückenlos rekonstruiert werden.
In der Pressemeldung vom Abend des Geschehens heißt es, die Frau sei von selbst gestürzt und habe sich dann mit Schlägen und Tritten gegen herbeieilende Einsatzkräfte gewehrt. „Plötzlich“ sei sie bewusstlos geworden und habe reanimiert werden müssen. Offen bleibt, was zwischen dem aggressiven Verhalten der Frau und den Reanimierungsversuchen geschehen ist.
Auch für den Linken-Bürgerschaftsabgeordneten Deniz Celik sind nach dieser Meldung Fragen offen. In seiner Antwort auf Celiks Anfrage schrieb der Senat, dass die Frau in Gewahrsam habe „festgehalten und mit Handfesseln fixiert“ werden müssen, um sie vor selbstverletzendem Verhalten zu schützen. Dabei habe sie sich gegen die Einsatzkräfte unter anderem mit Tritten gewehrt. Weiter heißt es, dass nach dem Anlegen der Fessel „bei der Frau gesundheitliche Probleme festgestellt“ worden seien, wonach die Fessel gelöst worden sei.
Überfordert mit der Krankheit
Angaben dazu, ob und in welcher Art und Weise Polizist:innen auf den Körper der Frau eingewirkt haben, macht der Bericht mit Verweis auf die aktuellen Ermittlungen nicht. Auch Informationen über den Gesundheitszustand der Frau und Obduktionsergebnisse liefert der Senat mit Verweis auf das „postmortale Persönlichkeitsrecht“ nicht.
Die Staatsanwaltschaft führt Ermittlungen gegen vier Polizist:innen „wegen des Vorwurfs der Körperverletzung im Amt mit Todesfolge“, auch das geht aus der Antwort des Senats hervor.
Die Frau, um die es geht, war Ingo R.s Schwester Dagmar. Ingo R. erzählt, dass er ein gutes Verhältnis zu seiner Schwester gehabt habe. Einige Zeit hätten sie in einer gemeinsamen Wohnung gelebt. Auf die Frage, wie es ihm einige Wochen nach dem Tod seiner Schwester geht, antwortet er: „Den Umständen entsprechend.“ Mittlerweile habe er den Tod seiner Schwester verarbeitet, aber manchmal breche es dann doch aus ihm heraus: „Manchmal kommen so Tage, dann sehe ich Fotos und fange wieder an zu heulen, weil ich die Welt nicht mehr verstehe.“
Vor 30 Jahren habe man bei seiner Schwester Schizophrenie diagnostiziert. Bis vor drei Jahren habe sie Medikamente genommen, um die Krankheit unter Kontrolle zu halten. Dann habe sie beschlossen, sie abzusetzen, erzählt er. Das bestätigt auch Damir L., der älteste von insgesamt vier Geschwistern.
Bis Ende 2022 sei es ihr damit gut gegangen, erzählen die Brüder. Dann hätten sie gemerkt, dass sich Dagmar R. anders verhält als sonst. Sie habe grundlos angefangen zu lachen, davon gesprochen, die Wohnung reinigen zu wollen, wenn sie alte Familienfotos wegschmiss. So erzählt es Ingo R. Sie habe „wirres Zeug“ erzählt, von „Strippenziehern“ gesprochen und sich in einer Fantasiewelt befunden.
Durch die rasche Verschlechterng des psychischen Gesundheitszustands seiner Schwester fühlte sich Ingo R. hilflos und im Stich gelassen: „In Deutschland kann man nicht gegen seinen Willen behandelt werden. Das kann ich auch verstehen. Wenn aber klar ist, dass jemand krank ist und das auch Ärzte so feststellen, dann muss man doch was machen können.“ Aus der gemeinsamen Wohnung war er zu diesem Zeitpunkt schon ausgezogen, auch wegen des schlechten Zustands seiner Schwester. Der Kontakt zwischen den Geschwistern sei dennoch eng gewesen. Er habe sie täglich nach der Arbeit besucht, sagt Ingo R.
Bei „strafrechtlichen Vorwürfen gegen Amtsträger“ ermittelt das Dezernat für Interne Ermittlungen (DIE). Fünf Verfahren habe es laut Innenbehörde im Zeitraum 2018 bis 2022 wegen Todesfällen im Kontext von Polizeieinsätzen geführt.
Wie viele der Verstorbenen psychisch krank waren, ist der Behörde nicht bekannt.
Damit das DIE ermittelt, wenn es zu „Zwangsmittelanwendungen“ durch Polizist:innen kommt oder Menschen bei Polizeieinsätzen sterben, bedarf es laut Senat „zusätzlicher Ansatzpunkte, die für das Vorliegen einer rechtswidrigen Tat sprechen“. Zu diesen Ansatzpunkten gehören Vermutungen von Vorgesetzten oder Strafanzeigen durch Angehörige der Geschädigten.
Nicht nur in Hamburg ist die Datenlage vage: Bei einer Recherche von Zeit Online aus dem Februar dieses Jahres konnten nur sieben Bundesländer Zahlen zu Todesfällen bei Polizeieinsätzen liefern.
Am 5. Februar habe sich ihr psychischer Zustand drastisch verschlechtert. Wovon Ingo R. dann erzählt – drei Polizeieinsätze und schließlich der Herzstillstand seiner Schwester auf der Polizeiwache in Hamburg-Bergedorf –, ist eine Geschichte von Eskalation und Überforderung: Eine Nachbarin habe ihn informiert, dass Dagmar R. nicht zu Hause sei und die Wohnungstür offen stehe. Er habe sich Sorgen gemacht, dass sie sich etwas angetan haben könnte und habe daraufhin die Polizei gerufen und Christo, einen engen Freund der Geschwister, zu Dagmars Wohnung geschickt. Er selbst habe arbeiten müssen.
Christo spricht mit der Polizei und reicht ihnen ein Foto für die Vermisstenanzeige, als Dagmar R. wieder auftaucht. Sie habe spazieren gehen wollen, erinnert er sich. „Sie wirkte ein bisschen verwirrt, aber auf keinen Fall aggressiv.“ Sie bat ihn, sie ins Krankenhaus zu fahren. Auf dem Weg dorthin verlässt sie den Wagen und verschwindet erneut. Die Polizei wird ein zweites Mal gerufen und hilft bei der Suche. „Die Polizisten waren sehr nett und haben uns geholfen“, sagt Christo. Auch Ingo R. bemüht sich um ein differenziertes Bild der Polizei: „Es sind nicht alle Polizisten auf der Wache schlecht.“
Dagmar habe sich dann gegen eine Behandlung entschieden und sei zu Fuß nach Hause gegangen, erzählen Ingo R. und Christo. Zu diesem Zeitpunkt hätten sie bereits gemerkt, dass sich ihr Zustand stark verschlechtert hatte. „So kannte ich sie nicht. Ich war schockiert“, erinnert sich Christo. Auf dem Weg nach Hause habe sie ihr Handy und ihre Schlüssel weggeschmissen. Eine Nachbarin habe Angst gehabt, als Dagmar R. gegen ihre Tür gehämmert habe.
Wie kam es zu dem Herzstillstand?
Erneut rückte die Polizei aus. Ingo R. erfährt von zwei Jugendlichen, seine Schwester habe sie aufgefordert, ihren Schal enger zu ziehen, um sie zu strangulieren. Die Jugendlichen riefen daraufhin die Polizei. Das geht auch aus deren Pressemeldung hervor.
Dass die Polizei Dagmar R. daraufhin nicht mitnahm, sondern versuchte, ihre Tür aufzubrechen, entrüstet Ingo R. Er spricht von unterlassener Hilfeleistung, von Fremd- und Selbstgefährdung, wenn er an diese Szene zurückdenkt. „Es wird die Polizei gerufen, weil da eine psychisch kranke Frau ist, die sich umbringen möchte, und die Polizei hat nichts Besseres zu tun, als Schlosser zu spielen?“ Erst nach seinem Drängen sei Dagmar R. in Polizeigewahrsam genommen worden, erzählt Ingo R.
Was am 5. Februar passiert ist, bevor Dagmar R. in Gewahrsam genommen wurde, hilft, zu verstehen, in welcher psychischen Situation sie sich befunden haben und wie groß die Überforderung gewesen sein muss. Eine Erklärung, warum es auf der Polizeiwache zum tödlichen Herzstillstand gekommen ist, liefern die Geschehnisse nicht. „Sie ging als körperlich gesunde Person rein, dann war sie in diesem Zustand“, sagt Ingo R. Er fragt: „Wie ist das passiert?“
Ein Polizist kniete auf ihrem Nacken
Auf dem Polizeikommissariat sollte Dagmar R. von einem Amtsarzt untersucht werden. Das geht auch aus der Senatsantwort auf die kleine Anfrage hervor. Ingo R. beobachtet das Geschehen auf der Wache: Er habe mitbekommen, wie eine Polizistin nach Verstärkung gerufen habe, woraufhin er fünf Beamte in Richtung seiner Schwester habe laufen sehen. Durch die Tür der Polizeiwache habe er gesehen, wie ein Beamter zu einem Erste-Hilfe-Kasten geht. Er gibt an, später einen „Herzmonitor“ gehört zu haben. Christo, der später dazugestoßen war, berichtet von einem Krankenwagen, der vor der Wache gestanden habe.
Sie hätten vermutet, dass es sich bei dem Notfall um eine andere Person handelt: „Ich dachte, die kommen doch und sagen Bescheid, wenn was mit ihr passiert wäre“, sagt Ingo R. Er sei erst deutlich später von einem Beamten darüber unterrichtet worden, dass seine Schwester einen „Kreislaufkollaps“ gehabt habe und in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei – kein Wort von Herzstillstand.
Erst am nächsten Morgen, als er sich zur Visite im Krankenhaus anmeldet, habe ihm eine Ärztin gesagt, dass seine Schwester einen Herzstillstand erlitten hatte. „Ich habe meine Schwester im Krankenhaus gesehen, in diesem Zimmer, an die ganzen Schläuche angeschlossen. Da bin ich wieder zusammengebrochen.“ Erst von der Bild habe Ingo R. erfahren, was sich in dem Raum abgespielt haben soll. Die Bild berichtete, einer der Polizisten habe auf ihrem Nacken und ihrem Rücken gekniet, woraufhin Dagmar R. blau angelaufen sei und habe reanimiert werden müssen.
Die Polizei äußert sich mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht zu dem Fall und ihren Einsätzen an dem Tag. Die Ermittlungen dauern noch an.
Das Verfahren wegen des Verdachts auf Körperverletzung beruht auf einer Anzeige von Ingo R. Ob auch ohne seine Anzeige Ermittlungen eingeleitet worden wären, ist unklar. Ermittlungen waren auch gegen Dagmar R. noch eingeleitet worden. So steht es in der Pressemeldung vom 5. Februar, „wegen des Verdachts des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“. Am 14. Februar, neun Tage nach der Ingewahrsamnahme, stirbt Dagmar R. im Krankenhaus.
Ingo R. möchte vor allem Klarheit: „Ich möchte, dass der Fall aufgeklärt wird. Ich fordere Gerechtigkeit für meine Schwester“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Foltergefängnisse in Syrien
Den Kerker im Kopf
Ministerpräsidentenwahl in Sachsen
Der Kemmerich-Effekt als Risiko
Getöteter General in Moskau
Der Menschheit ein Wohlgefallen?
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt