Tod eines Sprayers: Bunter Beton
Enrique war 15, als er starb. Der Jugendliche gehörte zu einer Szene, in der die Suche nach kreativem Spielraum mit tödlichen Gefahren verknüpft ist.
BERLIN taz | Im Sommer sind sie oft hier gewesen, in diesem Gemäuer mit den Spitztürmen und Erkern, das aussieht wie hingewünscht an die Ausfallstraße im Nordosten Berlins, zwischen lose verstreuten Plattenbauten und Einkaufszentren. Aber jetzt ist Winter. Kalter Regen fällt durch das eingefallene Dach, und von Enrique* sind Alyssa* nur die bunten Bilder an den Wänden geblieben.
Das Mädchen tritt tiefer in die verlassene Kinderklinik, wo Enrique sie früher mit Brennnesseln durch die Flure gejagt hat. Schutt knirscht unter ihren Turnschuhen. Die Mauern sind bis oben mit Graffiti bedeckt, achtlos an die Wand geworfenen Tags, kantigen Symbolen, aufwendigen Farbkaskaden.
Sie deutet auf einen hellen Schriftzug, der stammt von Enrique. „Das Sprayen war sein Leben“, sagt sie. Neben ihr steht Joana*, blass und still, sie nickt. „Er wurde immer besser. Vor seinem Tod war er übergut.“
Der Abend des zweiten Weihnachtstages bricht an, als sich Enrique mit vier Freunden zum Güterbahnhof an der Greifswalder Straße aufmacht. Die Jungen streifen über die Gleise; sie sehen sich um nach Flächen für ihre Graffiti. Einrique beginnt auf einen Kesselwagen zu klettern. Die Oberleitung verläuft ein kleines Stück darüber. Sie steht unter einer Spannung von 15.000 Volt.
Was will er da oben?
Aber es geht in dieser Geschichte nicht nur um ein Unglück, das einen 15 Jahre alten Jungen das Leben gekostet hat. Es geht auch um eine Subkultur, in der die Suche nach kreativen Spielräumen eng mit tödlichen Risiken verknüpft sind. Woher kommt der Gleichmut, mit dem Sprayer die Gefahr auf sich nehmen? Wer sich in Weißensee umsieht, merkt gleich, dass es keine eindeutige Antwort gibt. Sich mit der Welt dieser Jugendlichen zu befassen heißt, sie mit jedem Schritt neu zu vermessen.
Der Regen ist stärker geworden. Die Mädchen haben sich beim Bäcker in einem Supermarkt an einen Tisch gekauert. Alyssa und Enrique waren schon als Kinder Freunde. Solange sie denken kann, hat er gemalt. Mit dem Sprayen fing er an, als er zehn war. Ihm war wichtig, dass seine Bilder auffallen, sagt sie. „Er hat sich auch Farben selber gemischt, damit die richtig knallen.“ Wenn man mit Enriques Freunden spricht, ergibt sich das Bild eines Jungen, der rastlos war, neugierig, fantasiebegabt, voller Energie, und die brachte ihn an immer neue, unberechenbare Orte. „Er wollte immer dahin, wo noch keiner hingegangen ist“, sagt Alyssa.
Die Jungs, mit denen Enrique am zweiten Weihnachtstag unterwegs ist, bleiben unten stehen. Sie sehen, wie er die seitlich angeschweißte Leiter hochsteigt. „Was willst du da oben?“, rufen sie, „komm da runter!“
„Der war am Leben dran“
Im ersten Stock der Oberschule, die er besuchte, steht ein kleiner Tisch mit seinem Foto, daneben Blumen, ein rotes Grablicht. Anja Fiedler* lässt ihren Blick kurz auf dem Bild ruhen. Die Lehrerin mochte den Jungen. „Er war so ein James-Dean-Typ“, sagt sie, „der war am Leben dran.“
Sie unterrichtet eine Klasse im Bereich „Produktives Lernen“, der wurde für Schüler eingerichtet, die sonst keinen Abschluss schaffen würden. Anja Fiedler setzt sich in ihr Büro, vor dem Fenster breitet sich Pankow aus; viel Beton, hohe Wohnblocks. Ihre Schüler lernen an zwei Tagen in der Woche im Unterricht, an dreien an einem selbst gewählten Praxisplatz. „Für Enrique war das eine Chance, aus dem Schulalltag rauszukommen, den er gestört und verweigert hat.“
Seine Eltern sind getrennt, die Mutter führt eine Boutique, der Vater ist Techniker. Enrique stammt nicht aus prekären Verhältnissen. Viele seiner Mitschüler schon. Fiedler hat oft das Gefühl, dass sie sich an Lücken abarbeitet, die kaum noch zu schließen sind. Sie bringt Neuntklässlern die Grundrechenarten bei, das kleine Einmaleins.
Enrique hatte oft Ärger in der Schule. Still sitzen, zuhören, all das fiel ihm schwer. „Er war immer lustig. Der hat sich einfach keine Platte gemacht. Aber er hatte seine Grenzen in der Konzentration.“ Jeden Morgen lief er zu seinem Platz, setzte sich hin und fing gleich an zu zeichnen. Das Skizzieren von Buchstaben im Unterricht, Fiedler konnte das nie leiden. „Das ist eine Sucht, dieses Gekritzel.“
Auch Alyssa und Joana haben gemerkt, dass Enrique keinen Fokus fand. Sie haben ihn gefragt: „Enrique, was willst du denn später mal machen?“ Alyssa spricht ganz nüchtern, die Trauer schwingt nur leise mit. „Wir alle haben keine gute Zukunft“, sagt sie. „Das ist kein guter Ort hier.“
Ruhm und Anerkennung
Die Fotos auf Enriques Facebook-Profil zeigen einen schmalen, hübschen Jungen mit hellblonden Haaren. Anfang Oktober schreibt er dort auf seine Wand: „Uns halten nur die Grenzen, die wir uns selbst setzen.“
In Berlin und Brandenburg sind 2013 insgesamt vier Jungen auf Gleisanlagen verunglückt. Drei Teenager starben, ein Neunjähriger überlebte mit heftigen Verbrennungen. In Hamburg wurden im Oktober zwei Sprayer schwer verletzt: Einen traf ein Stromschlag, der andere wurde von einem Regionalzug erfasst.
„Wenn ich in der Graffitiszene tätig bin, möchte ich Ruhm und Anerkennung erfahren. Also muss ich spektakulär sprayen“, sagt Lindner, Polizist im Kommissariat Graffiti beim Landeskriminalamt. Die Sprayer sprechen von „Fame“. Lindner gibt seinen Vornamen nicht preis. Er fürchtet, dass ihm die Sprayer sonst sein Auto anmalen. Der Szene gehören Kids aus allen Schichten und allen Bezirken an, sagt er, überwiegend Jungen. Der Anteil der Mädchen liegt im einstelligen Prozentbereich.
Wer auf einen Zug sprüht, kann seine Bilder quer durch Berlin fahren lassen. „Das gilt als hohe Kunst“, sagt er, „aber Unfälle passieren immer wieder.“
Enrique hat die Stromleitung nicht berührt. Er ist ihr nur zu nahe gekommen. So konnte sich ein Lichtbogen bilden. Ein Knall, ein Blitz. Seine Freunde rennen, geblendet, unter Schock.
Kunst für den Moment
Knapp einen Monat später stapft ein dünner Mann Ende 20 durch den eingeschneiten Mauerpark. Dmark war Enriques Vorbild. Er steuert auf eine Mauer zu, die bunt ist vor lauter Graffiti. In der Mitte hat er ein Bild zum Gedenken an Enrique aufgesprüht. „Spok“, der Sprayername des Jungen, in grünen, kristallinen Lettern, Fantasiewesen, lila Blasen. „Manchmal wünscht man sich, die Bilder wären ein paar Tage länger da“, sagt er. Graffiti sind Kunst für den Moment. Sie entstehen wie aus dem Nichts, heimlich, in aller Eile, und verschwinden schnell wieder. Dmark ist seit über zehn Jahren Teil der Szene. „Der eine macht’s, weil er die Kunst liebt. Der andere, weil’s ihm um Berühmtheit geht. Oder weil er ’nen Drang zum Vandalismus hat.“
Dmark arbeitet nur noch selten auf der Straße. „Ganz lassen kann ich es nicht“, sagt er, lächelt, wird wieder ernst. Auch ihm macht die Sache mit Enrique zu schaffen. Der Junge verfolgte seine Einträge auf Facebook und Instagram. Dmark schweigt kurz. Er dürfte der einzige bekannte Sprayer in Berlin sein, der keine Züge besprüht. „Manche sagen: Der ist uncool“, sagt er. „Aber mich turnt es nicht an. Ich nehm mir lieber Zeit, meine Buchstaben perfekt in Szene zu setzen.“
Leben mit der Angst
Das Jugendheim, in dem Enrique viele Abende verbracht hat, liegt an einer stillen Seitenstraße. Es ist früh am Abend, auf einer Bank draußen hocken einige Jugendliche; ihre Zigaretten glimmen in der Dunkelheit auf. „Er hat immer gute Laune gebracht“, sagt einer, „wir haben immer auf ihn gewartet, dass was los ist.“ Sie haben drinnen eine Erinnerungsecke eingerichtet, mit Fotos und einer Flasche seines Lieblingsbiers, ein Portbier mit Kirschgeschmack.
Ein graziles Mädchen, blonde Haare, viel Kajal um die Augen, tippt auf dem Handy herum. Jessica* war mit Enrique zusammen. „Sie ist seine Witwe“, sagt ein Mädchen, das sich Jenko nennt.
„Halt die Fresse.“
„Ist doch so.“
Jessica hat Enriques letzte Skizzen in ihrem Telefon abgespeichert. „Er war ein Künstler. Er wollte einfach malen.“
Ein anderes Mädchen sagt: Es ging ihm auch um den Kick.
„Sagen wir so: Er wollte seinen Spaß“, meint ein Junge.
Auch Marvin* malt auf Fassaden, aber nur mit Stiften. Es heißt oft, dass sich die Jugendlichen der Gefahr nicht bewusst sind. Aber das stimmt nicht, sagt er, sie machen es trotzdem. Die Angst ist immer mit dabei. „Klar ist das riskant, im Tunnel. Die U-Bahn kommt ja alle zehn Minuten.“
Dann lässt er auf seinem Handy einen Filmclip laufen: Sprayer, die ganze Züge in ihren Farben gestalten, rasante Schnitte, dazu pochende Rhythmen.
Enrique kam es darauf an, der Welt seine Zeichen aufzudrücken, bunte Chiffren, die allen zeigen, wer er ist, was er draufhat.
Erinnerungsecke
Marvin war oft mit ihm unterwegs. Einmal streunten sie nachts über den stillgelegten Bahnhof Pankow-Heinersdorf, da kraxelte Enrique plötzlich auf einem verwitterten Turm herum. „Auf so Ideen wären andere nie gekommen.“ Jessica hat ihm gesagt, er soll aufhören mit dem Quatsch. Er hat geantwortet: „Ich pass schon auf mich auf."
Gegen 19 Uhr am 26. Dezember sieht jemand den Schein, der am Güterbahnhof Greifswalder Straße aufflackert. Er wählt den Notruf. Als die Feuerwehr eintrifft, ist Enrique bereits tot.
Auch Joana war in der Nähe. Sie hört den Knall, sieht das Licht. Dass Enrique in dem Moment starb, erfährt sie erst später. „Für uns wird er nie richtig tot sein.“ Vielleicht wäre alles nicht so weit gekommen, wenn es andere Möglichkeiten gegeben hätte, sagt Alyssa. Sie stellt sich vor, wie es wäre, einen Ort zu haben, wo sie nie wieder wegwill. „Wie im Urlaub. Aber so etwas gibt es nicht bei uns.“ Joana sagt: „Für uns gab es immer nur uns. Wir haben zusammen gechillt, wie eine richtige Familie.“
Sie trinken ihre Colas aus und wollen los. In Alyssas Kopf kommt eine Erinnerung hoch. Ein Abend mit Enrique. Beide waren betrunken und taumelten über den Platz vor dem Supermarkt. Sie haben noch versucht, sich gegenseitig zu stützen. Am Ende sind sie doch hingefallen.
Knapp sechs Wochen vor seinem Tod stellt Enrique einen selbst geschriebenen Text auf Facebook: Wir ziehns durch mit dem Kopf durch die Wand
Keine Hemmung keine Furcht mit dem Kopf durch die Wand.
*Namen geändert
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