Tiere im Ukraine-Krieg: Zoo unter Beschuss
Rund 5.000 Tiere evakuierte man spektakulär im Charkiwer Zoo beim ersten russischen Großangriff. Jetzt ist der Wiederaufbau erneut in Gefahr.
E s sind ungezählt traurige Ereignisse, die die ostukrainische Metropole Charkiw in diesem Krieg bisher ereilt haben: immer wieder gibt es schwere russische Angriffe mit Gleitbomben und Raketen auf die Zivilbevölkerung; im Mai rückte die Front bereits zum zweiten Mal in diesem Krieg gefährlich nahe an die Millionenstadt heran. Und dann ist da, neben all dem menschlichen Leid, auch noch die Not der Tiere.
Charkiw hat einen Zoo. Der Feldmann-Ökopark ist eine der größten Parkanlagen der Ukraine, über 5.000 Tiere lebten hier vor Kriegsbeginn. Nur wenige Wochen nach dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 machten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ökoparks an ihre wohl bisher schwerste Aufgabe, ein Job, den sie nicht hatten proben können in Friedenszeiten: Wie evakuiert man einen Zoo unter Bombenbeschuss?
Wer den Feldman-Ökopark betritt, kommt an einer großen schwarzen Tafel vorbei, die Fotos von sechs Mitarbeitern zeigt. Alle sechs sind bei dem Versuch, die Tiere des Parks vor den heranrückenden Russen zu retten, im Frühjahr 2022 ums Leben gekommen.
Gleich hinter der Tafel steht ein großes zweistöckiges Gebäude. Wer hier ein Dach sucht, der sucht vergeblich. Bei den Angriffen Anfang 2022 war das Gebäude zum großen Teil zerstört worden. Nur noch ein paar frei schwebende Balken zeugen davon, dass hier mal ein Haus war.
„Herzinfarkt“, sagt Iwan Dostow nur. Was Dostow, Direktor des Feldman-Tierparks, damit meint: seine geliebten Affen, Schimpansen und Orang-Utans, die bis Anfang März 2022 in dem Feldman-Park gelebt hatten – von ihnen haben die meisten die Bomben nicht überlebt. Es habe ihnen „aus Panik das Herz zerrissen“, sagt Dostow. Und dann, etwas nüchterner: „Der Mediziner würde sagen, sie sind an einem Herzinfarkt gestorben.“
Der Feldmann-Park, benannt nach seinem Besitzer, dem ukrainischen Großunternehmer Olexandr Feldman, war lange Jahre Naherholungsgebiet, Tierpark und Therapiezentrum zugleich.Seit 2013 werden hier Kinder und Erwachsene mit psychischen Problemen oder Abhängigkeiten aufgenommen. Die Tiere, zum Beispiel die Pferde und Ponys des Zoos, sind Teil des Therapiekonzepts. Über 7.000 verhaltensauffällige und traumatisierte Personen seien hier seit 2011 behandelt worden, so die Pressesprecherin Olena Klimenko zur taz. Und immer war der Zoo-Eintritt für alle Besucherinnen und Besucher kostenlos.
Überhaupt war der Feldmann-Park ein Zuhause, ein Zufluchtsort, für alle, die vielleicht sonst keins hatten: In einem weiteren Projekt mit dem Namen „Das gute Haus“ konnten Tiere, Haustiere wie wilde Tiere, vorübergehend eine Bleibe finden. So habe man etwa kranke Hirsche aufgenommen und behandelt und nach einer gewissen Zeit, als sie gesundet waren, wieder in die freie Wildbahn entlassen, erzählt Klimenko. Oder es wurden Haustiere im Tierpark aufgenommen, die aus unterschiedlichen Gründen von ihren Besitzern verlassen worden waren. „Das gute Haus“ habe so über die Jahre insgesamt 28.000 Tiere beherbergt, sagt die Sprecherin.
Doch dann kam der 24. Februar 2022. Nun lag der Feldman-Park mitten in der Schusslinie der russischen Angreifer. Hunderte von Drohnen und Raketen gingen auf dem Gelände nieder, töteten sechs Mitarbeiter und viele Tiere, zerstörten die Infrastruktur des Parks. Bei Minustemperaturen litten Affen, Esel, Pferde, Kühe, Geparde, Elche, Kängurus, Bisons, Löwen, Leoparden und andere Zootiere an der Kälte. Das Futter ging zur Neige.
Übersät mit Löchern
„Sehen Sie sich mal diese Metallwand an“, sagt Tierpark-Chef Dostow. „Sie ist übersät mit Löchern. Hier haben unsere Affen gelebt. Ein Zeugnis der militärischen Angriffe auf unseren Park.“ Er zeigt auf ein paar Bäume, ein weiteres Zeugnis der Zerstörung. Raketensplitter haben ihnen die obere Hälfte der Krone weggerissen. Dostow ringt mit Worten, als er vor einer Stelle steht, an der mal ein Pferdestall gestanden hatte. Die Reittherapie habe immer gute Ergebnisse gezeigt, sagt er. 90 Pferde und Ponys habe man gehabt. Jetzt seien nur noch zwölf von ihnen hier.
Die Geschichte des Angriffs auf den Zoo ist auch die Geschichte einer unglaublichen Rettungsaktion. Olexandr Feldmann, der Besitzer des Tierparks, hat inzwischen einen dokumentarischen Bildband dazu herausgeben, er heißt „Wie wir den Ökopark gerettet haben“.
„Und morgen war Krieg“, schreibt Switlana Wischnewezka, stellvertretende Direktorin des Ökoparks und zuständig für die Nagetiere, Reptilien und Vögel, in diesem Buch. Der Satz ist eine Anspielung auf den gleichnamigen Film von 1987 – ein Anti-Kriegsfilm, der von den sojwetischen Behörden zensiert wurde.
Am Abend des 23. Februar 2022 sei sie noch ein letztes Mal durch den Zoo gegangen, erinnert sich Wischnewezka. Dabei sei ihr die außergewöhnliche Unruhe, die die Tiere an diesem Abend gezeigt hatten, aufgefallen. „Offensichtlich hatten die eine Vorahnung“, schlussfolgert sie.
Und dann, am ersten Kriegstag, sei die Panik unter den Tieren ausgebrochen: „Im Gegensatz zu uns Mitarbeitern“. In den ersten Kriegstagen hätten sie die Tiere noch zu den üblichen Zeiten gefüttert. Doch irgendwann sei klar gewesen, dass man sie evakuieren müsse. „Wir haben mit den kleinen und jüngsten unter ihnen begonnen“, berichtet sie. „Es waren junge Geparde und junge Pumas. Sie kamen mit dieser Kälte im Februar und ausgefallenen Heizungen überhaupt nicht zurecht.“
Am 7. März vor zwei Jahren kamen die Einschläge näher. Irgendwann habe sie, als sie wieder Dauerfeuer hörte, den Schutzkeller aufgesucht. „Als es ruhig geworden ist, sind wir wieder raus. Und dann habe ich direkt am Haupteingang unseren Fahrer Andri gesehen, der uns wenige Stunden zuvor zur Arbeit gebracht hatte. Er lag am Boden, rührte sich nicht. Die Männer haben seinen Leichnam in ein Verwaltungsgebäude getragen. Auf dem Weg dorthin haben wir Dima gesehen, der für die Heizungen zuständig war. Auch er war tot. Nie werde ich diesen Tag vergessen.“
Der Transport der beiden Riesenschildkröten, Gabika und Bronika, beide jeweils 100 Kilogramm schwer, sei eine Herausforderung gewesen, sagt Wischnewezka. Riesenschildkröten sind besonders wärmebedürftig, und genau das habe man ihnen im beschossenen Zoo nicht mehr bieten können. „Fünf Männer haben wir für eine Riesenschildkröte gebraucht“, berichtet die Vize-Direktorin. „Eine Meisterleistung, und das unter ständigem Beschuss.“
Die Tiere flohen
Nach dem 10. März 2022 wurde das Tierpark-Gelände dann auch aus der Luft bombardiert. Als dabei das Glas der Affenkäfige zersplitterte, flohen die Tiere. Nur mit Mühe habe man all die Affen wieder einfangen und evakuieren können, sagt Wischnewezka.
Doch wohin mit den Orang-Utans und Schimpansen? Larissa, die Mitarbeiterin des Zoos, die üblicherweise für die Orang-Utans und Schimpansen zuständig war, war nicht erreichbar. Und so wagte sich Switlana Wischnewezka in deren Käfige, das erste Mal in ihrem Leben. „Ich habe das Schloß zerstört, bin einfach rein“, berichtet sie in dem Buch von Olexandr Feldman. „Ich bin vor der Schimpansin in die Knie gegangen, habe ihr gesagt: Ponochko, gib mir jetzt deine Hand. Wir müssen jetzt dich und deinen Sohn retten. Und die Schimpansin hat verstanden, ist mitgegangen. Zwei Orang-Utans, Ljuba und Nadja, konnten wir nicht mehr retten, sie waren einem Herzinfarkt erlegen.“
Kaum einer der Angestellten hatte sich am Morgen des Angriffs übrigens vom täglichen Weg zur Arbeit abbringen lassen: Irgendwer musste ja die Tiere versorgen. An diesem Tag habe zunächst noch niemand an eine Evakuierung des Parkes gedacht, doch schon in den nächsten Tagen begann man mit der Rettung von Tierbabys, die erst kürzlich zur Welt gekommen seien, erzählt Wischnewezka.
Dann seien die Geparde, Pumas, Schildkröten, Papageien und alle anderen Tiere, die Kälte nicht vertragen – das Heizungssystem des Zoos war zerstört – an der Reihe gewesen. Doch auf diese Aufgabe war keiner der Pfleger vorbereitet. Und auch die Käfige waren nicht für einen Transport gebaut. Wie hievt man zwei Riesenschildkröten in ein Auto, während gleichzeitig das Gelände beschossen wird? Ganz zu schweigen von einem Bären mit bis zu 500 Kilogramm Gewicht. Am schwierigsten übrigens, so Zoodirektor Dostow, sei die Evakuierung der Esel gewesen. Da sei ihm klar geworden, warum man diesen eine sprichwörtliche Sturheit nachsagt.
Als der Park am 10. März 2022 direkt bombardiert wurde, liefen panikartig immer mehr Tiere aus ihren zerstörten Käfigen heraus durch den Zoo und mussten wieder eingefangen werden. Nicht auszudenken, so Pressesprecherin Klimenko, was gewesen wäre, wenn ein Raubtier entflohen und wenig später in der Stadt aufgetaucht wäre.
„Wenn Menschen Stress haben, verhalten sie sich anders als üblich. Bei Tieren, vor allem Raubtieren, ist das nicht anders“, erklärt Iwan Dostow der taz. Und so habe man die großen Raubtiere in eine Narkose versetzen müssen. Anders sei man der Lage nicht Herr geworden. Erst als die Tiere betäubt waren, habe man sie in bereitstehende Autos verfrachten können. Und natürlich habe man dabei aufpassen müssen, dass man nicht deren Pfoten oder andere Körperteile verletzt.
Glück im Unglück
Aber man habe auch Glück im Unglück gehabt, sagt Dostow. Mit den Rentieren, zum Beispiel: Die seien, als ihr Gehege zerstört wurde, in den nächst liegenden Wald geflüchtet. Dorthin hätten Zoomitarbeiter ihnen regelmäßig Futter gebracht. Und eines Tages seien die Rentiere ganz von alleine in ihre Behausung zurückgekehrt.
Neben vielen Privatpersonen hatten während des ersten russsischen Angriffs auf Charkiw vor zwei Jahren auch mehrere Zoos, darunter die Zoos von Poltawa und Odessa, angeboten, den Tieren des Feldmann-Ökoparks Asyl zu geben. Doch zunächst kamen sie alle auf das Anwesen des Besitzers, Olexandr Feldman. Selten wohl haben irgendwo auf der Welt so viele Tiere einträchtig auf engem Raum zusammengelebt wie in diesen Tagen die Tiere dort.
In seinem Badezimmer saß irgendwo eine Katze, in der Wanne lebten Schildkröten, ein Zimmer teilte sich eine Gans mit exotischen Vögeln, im Schwimmbecken planschten Marabu-Störche. Später sind die meisten Tiere im Zoo von Poltawa untergekommen. Auch der Zoo von Odessa nahm einige Tiere bei sich auf.
Bei einem Besuch im Frühling 2023, etwa ein Jahr nach dem russischen Bombardement, begleiten den Besucher ein ständiges Hämmern, Sägen und Klopfen. Es ist der Klang des Wiederaufbaus: Hier entstehen die Gebäude neu, darunter auch die Käfige für die Tiere, die zurückkehren sollen. Man habe die Heizung wieder funktionsfähig gemacht, auch das Stromnetz sei wieder intakt, erklärt Tierparksprecherin Olena Klimenko. Insgesamt seien von den rund 5.000 evakuierten Tieren bereits 700 wieder zurück im Zoo.
Zurück in heimatliche Gefilde
Und dabei werde es nicht bleiben, verspricht Klimenko. Man wolle noch mehr Tiere zurückholen in die heimatlichen Gefilde. Alles solle wieder so aufgebaut werden, wie es vor dem russischen Angriff gewesen sei, sagt Klimenko, während sie an dem Gehege mit den weißen Tigern vorbeigeht. Sicher werde auch irgendwann wieder das nagelneue Restaurant eröffnen, das exakt einen Tag vor Kriegsbeginn in Betrieb genommen wurde – und seitdem geschlossen hat.
Auch Veranstaltungen und Feste solle es in Zukunft wieder geben, sagt die Zoo-Sprecherin bestimmt, als ob der Krieg mit der zweiten russischen Angriffswelle auf Charkiw nicht längst wieder näher herangerückt wäre denn je. Der Wiederaufbau nach den ersten großen Bombardements gerät ins Stocken, die Atempause war eine kurze. Dabei kamen um die Jahreswende, als die Front vor allem weiter im Osten und Süden des Landes tobte, sogar langsam wieder etwas mehr Besucher in den Park zurück – allerdings noch kein Vergleich zu den 2,7 Millionen Besuchern, die vor dem Krieg pro Jahr in den Park kamen.
Es gebe inzwischen Anfragen aus mehreren Ländern, die Erfahrungen, die man mit der Evakuierung der Tiere in Charkiw gesammelt hat, mit Kollegen in anderen Ländern zu teilen. Zwar tue man das gerne, konstatiert Feldman in seinem Buch. Gleichzeitig hoffe er aber auch, dass niemand diesen Erfahrungsschatz werde benötigen müssen.
Im Feldman-Park stellt man sich derweil im Frühsommer 2024 auf den worst case ein. Inzwischen habe man angesichts der neuen verstärkten Angriffe auf Charkiw den Park für die Öffentlichkeit wieder geschlossen, berichtet der Direktor der Feldman-Stiftung, Vadim Vorotinski, der taz. „Natürlich werden, wie gewöhnlich, in diesen Tagen die Tiere gefüttert und versorgt. Die Bedürfnisse des täglichen Lebens, ob bei Mensch oder Tier, sie nehmen keine Rücksicht auf Kriegszeiten. Auch die Renovierungsarbeiten gehen weiter“, berichtet Vorotinski. „Doch wenn sich die Lage verschlechtern sollte, werden wir den Zoo erneut evakuieren. Inzwischen wissen wir ja, wie das geht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles