Thüringenwahl 2024: „Kein Wahlkampf für Stammwähler“
Als Umweltminister und Spitzenkandidat kämpft Bernhard Stengele gegen das Aus der Grünen in Thüringen. Ein Besserwessi will er auf keinen Fall sein.
taz: Herr Stengele, seit Beginn des Ukrainekriegs sind Sie acht Mal mit Hilfsgütern nach Lwiw gefahren – zuletzt Mitte August. Lastet Sie der Wahlkampf nicht aus?
Bernhard Stengele: Eigentlich hatte ich vor, erst im September wieder zu fahren. Im Moment habe ich als Minister und Spitzenkandidat im Wahlkampf genug zu tun. Aber dann habe ich den Auftritt von Sahra Wagenknecht in der Talkshow von Maybritt Illner gesehen, wo sie in Frage gestellt hat, dass Russland verantwortlich für den Angriff auf das Kinderkrankenhaus in Kyjiw ist. Das war unglaublich. Ich war selten so sauer nach einer Fernsehsendung. Da habe ich gesagt: Wir setzen ein Zeichen für uns und die Ukrainer und fahren jetzt rüber.
61, wuchs im Allgäu auf. 2012 wurde er Schauspieldirektor im thüringischen Altenburg, 2017 trat er in Reaktion auf den Rechtsruck den Grünen bei. 2020 wurde Stengele Co-Vorsitzender des Thüringer Landesverbands, 2023 ersetzte er Anja Siegesmund als Umwelt- und Energieminister. Mit Madeleine Henfling ist er Spitzenkandidat für die Landtagswahl am 1. September.
taz: Der Krieg in der Ukraine ist eines der bestimmenden Themen in diesem Wahlkampf. In Ostdeutschland ist die Ukrainehilfe unpopulär. Dadurch sind Ihnen in Thüringen sicher Leute verloren gegangen?
Stengele: Es gab deswegen Parteiaustritte, aber nicht viele. Bei den Wählern kann das anders sein. Das Thema ist irgendwie immer virulent. Selbst wenn ich bei einem Wahlkampfauftritt nur über Klimaschutz rede, habe ich das Gefühl: Irgendwas ist hier doch los? Bis dann wirklich wieder kommt: „Aber was ihr mit der Ukraine macht, finde ich falsch.“ Ich spreche das Thema deshalb meistens proaktiv an und setze darauf, dass es mehr als fünf Prozent in Thüringen gibt, die unsere Haltung richtig finden.
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taz: Haben Sie schon jemanden von Ihrer Position überzeugt?
Stengele: Ja, neulich. Auf dem Geraer Markt war ein älterer Mann, der mir gleich zur Begrüßung gesagt hat: „Ich wähle AfD“ – wegen des Kriegsthemas. Den habe ich gefragt: Aber der Putin hat doch die Ukraine überfallen, oder? Hat er gesagt: Ja. So kamen wir ins Gespräch und am Ende meinte er, dass ich eigentlich recht habe. Man muss es auf das Grundsätzliche zurückführen: Musste Putin in die Ukraine gehen? Hat er das getan? War es falsch? Es klappt nicht immer, aber es kommt vor, dass wir damit Nachdenklichkeit erzeugen.
taz: Im Bund diskutieren die Grünen, ob sie sich auf die Stammwähler besinnen oder neue Milieus erreichen sollten. In Thüringen stehen Sie bei vier Prozent, es droht das politische Aus. Wen wollen Sie auf den letzten Metern erreichen?
Stengele: Immerhin ist die letzte Umfrage besser als die davor. Wir kämpfen also um jede Stimme. Und wir können und wollen es nicht alleine in den Städten schaffen, im Unterschied zu Sachsen haben wir davon zu wenige. Wäre Jena doppelt so groß, wären wir drin – ist es aber nicht. Also wollen wir alle erreichen, für die die Grünen überhaupt eine Option sind. Einen Wahlkampf, der sich nur an Stammwähler richtet, können wir nicht machen.
taz: Was müssen Sie anders machen als Grüne in anderen Ländern oder im Bund?
Stengele: Nehmen wir mal das Gebäudeenergiegesetz. Thüringen ist das Bundesland mit dem zweithöchsten Altersschnitt. Gleichzeitig haben Hausbesitzer hier viermal weniger Rücklagen als im Westen. Da stellen sich beim Thema Wärmedämmung ganz andere Fragen. Nämlich nicht: „Super, da kriege ich Fördergeld, das nehme ich mit.“ Sondern: „Wie kann ich mir das leisten, und wieso soll ich überhaupt noch so viel Geld in die Hand nehmen?“ Die soziale Komponente ist hier viel wichtiger. Ähnlich ist es bei der Windkraft.
taz: Nämlich?
Stengele: In Schleswig-Holstein jubeln die Landwirte, wenn sie auf ihren Feldern Windräder bauen können. Sie verdienen damit Geld. In Thüringen haben über 70 Prozent der Bauern das Land nur gepachtet. Die finden es nicht gut, wenn dort Windkraftanlagen gebaut werden, sie haben dann vielleicht weniger Acker, weniger Einnahmen. Zudem heißt es dann: „Das verstellt mir die Aussicht, der Projektierer kommt von sonst wo, und der Strom fließt nach Bayern.“ In Thüringen haben wir deshalb jetzt ein Gesetz verabschiedet, durch das die Gemeinden im Umkreis am produzierten Strom mitverdienen. In der Sekunde, in der man was davon hat, sieht das Windrad schon besser aus.
taz: Die Grünen sitzen seit zehn Jahren im Energieministerium. Warum kam das Gesetz erst jetzt?
Stengele: Ich kann es Ihnen nicht sagen, ich bin ja selbst erst anderthalb Jahre im Amt. Ja, das hat zu lange gedauert.
taz: Nach den Wahlen wird wieder die Diskussion aufkommen, warum die Grünen im Osten nicht richtig Fuß fassen. Was raten Sie Ihrer Partei?
Stengele: Zum einen, was ich eben beschrieben habe. Bei all den großen Rädern, die in Berlin gedreht werden, dürfen wir nicht die kleinen Schritte übersehen, die für die Akzeptanz der Energiewende nötig sind. Zum anderen muss unsere Politik pragmatischer werden. Ich kenne hier Grüne, die wissen alles übers Klima und kaufen sich trotzdem ein Hybridauto. Als ich das hörte, dachte ich mir: Wenn sich nicht mal unsere Leute E-Autos kaufen, wie komme ich dann darauf, dass es alle anderen tun sollten? Es hilft ja auch, wenn einer seinen Verbrenner behält, ihn aber seltener fährt und öfter andere Leute mitnimmt. Wir sollten das Positive verstärken, statt den Leuten nur zu sagen: Das genügt nicht.
taz: In der Klimakrise reichen kleine Schritte nicht.
Stengele: Ich komme ursprünglich vom Theater. Wenn ich da Wallenstein spielen will, aber keiner im Ensemble das darstellen kann, muss ich ein anderes Stück oder eine andere Produktion machen. Am langsamsten wird die Klimapolitik, wenn die Leute uns Grüne abwählen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
taz: Sie haben den Großteil Ihres Lebens als Schauspieler und Regisseur verbracht. 2012 kamen Sie als Theaterleiter aus dem Westen nach Thüringen. Damals gab es die AfD noch nicht, jetzt wird sie stärkste Kraft. Wie erleben Sie den Rechtsruck?
Stengele: Ich habe damals in Altenburg ein internationales Theaterprojekt mit Schauspielern aus dem Ausland gemacht. Am Anfang gab es dort eine große Neugierde auf diese Menschen. Innerhalb von fünf Jahren hat sich das ins Gegenteil verkehrt, sogar bei Kindern. Am Ende kam einer meiner schwarzen Darsteller in eine Schulklasse, und die haben den sofort beschimpft. Was ist denn das für eine krasse Verschiebung?! Am Anfang gab es in Altenburg auch noch vier, fünf Kneipen, in denen man sicher war, und höchstens zwei Straßen, durch die man lieber nicht gegangen ist. Am Ende war es egal. Du konntest überall beschimpft werden. Man war ständig alert, und das hat sich ausgebreitet.
taz: Was bedeutet das für grüne Politik?
Stengele: Als Minister werde ich meistens sehr respektvoll behandelt. Aber in vielen kleineren Kommunen verlangt es echten Heldenmut, überhaupt zu sagen, dass man Grüner ist. Viele Mitglieder denken: „Hätte ich das doch nur nie jemandem erzählt“ – weil du als Grüner von vielen geächtet wirst. Das ist hart. Wer will denn ständig mit so einem Stigma durch die Gegend laufen?
taz: Wie können Sie politisch wirksam bleiben, wenn Sie auch noch aus dem Landtag fliegen?
Stengele: Das wollen wir verhindern. Und falls der Fall eintritt, müssen wir als Partei schauen, wie wir uns aufstellen. Ich habe schon mit der Bundespartei darüber gesprochen, wie man Strukturen aufrechterhalten könnte. Es haben alle verstanden, dass wir dafür Unterstützung bräuchten.
taz: Was würden Sie machen?
Stengele: Ich bin nicht mit 20 in die Politik gegangen, sondern erst mit Mitte 50. Das ist entlastend. Ich bin beruflich nicht in diesem System groß geworden, bin nicht von ihm abhängig und könnte auch wieder loslassen.
taz: Nach Ihrer Zeit in Thüringen sind Sie zunächst in Ihre Allgäuer Heimat gegangen. 2019 kamen Sie dann zurück, um Politiker zu werden. Was zieht Sie hierher?
Stengele: Ich habe in Altenburg Leute mit der interessantesten Biografie und dem größten Mut getroffen. Den Pfarrer zum Beispiel, der 1989 in der Stasizentrale stand und nicht wusste, ob man ihn totschießt. Diese Leute haben oft auch einen guten Sinn dafür, Kunst und Politik zusammenbringen. Dadurch hat das Theater hier eine gesellschaftliche Relevanz, die ich im Westen nie erlebt habe. Als ich wieder im Allgäu war, fand ich dort eine solche Ignoranz gegenüber diesen historischen gesellschaftlichen Ereignissen. Die Leute dort beschweren sich über den Osten, der „immer nur Ärger macht, obwohl wir ihm doch schon alles gegeben haben“. Da habe ich gesagt: Da will ich nicht sein. Wirklich nicht. Das hat mich wieder hierhergezogen.
taz: Erleben Sie umgekehrt Anfeindungen als Westdeutscher?
Stengele: Ich persönlich höre solche Vorwürfe selten. Ich führe das darauf zurück, dass ich in einfachen Verhältnissen aufgewachsen bin. Ich war der Erste, der Abitur gemacht hat. Das Gefühl des Besserwessis, der hierher kommt und den Leuten das Leben erklärt, ist deshalb bei mir nie aufgekommen. Einen Unterschied merke ich aber in der Frage, mit der wir das Gespräch begonnen haben: der Ukraine. Ich diskutiere oft mit einer guten Freundin, einer Linken. Sie sagt, wir müssten doch die Zukunft unserer Kinder schützen, und will der Ukraine deswegen keine Waffen zur Verteidigung geben. Es sind dieselben Gründe, die mich dazu bringen, das andere zu tun. Auch wenn ich damit in Thüringen nicht alleine stehe und das Thema komplex ist, denke ich erstmals: Es gibt doch Unterschiede in der Sozialisation, die tief sitzen und für die keiner von uns etwas kann.
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