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Debatte über Kopfnoten an SchulenNeue Thüringer Härte

Seit diesem Schuljahr setzt Thüringen auf mehr Disziplin, Noten und Sitzenbleiben. Die Maßnahmen kommen nicht überall gut an.

Rückwärtstrend zur Old School angesichts komplexer Problemlagen heutzutage? Klassenzimmer im Jahr 1952 Foto: imageBROKER/imago
Michael Bartsch

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Michael Bartsch aus Dresden

Welche Folgen der Leistungsdruck an Schulen hat, zeigte kürzlich der „Präventionsradar“ der Krankenkasse DAK: Demnach fühlen sich fast zwei Drittel der Schulkinder erschöpft, ein Drittel zeigt depressive Symptome. Trotz solcher Zahlen hat Thüringen im Sommer eine umstrittene Entscheidung getroffen: Mit dem neuen Schuljahr sollen Lehrkräfte wieder ab Klasse drei Mitarbeits- und Verhaltensnoten verteilen. Kritiker sehen darin vor allem einen Angriff auf die 82 Gemeinschaftsschulen, die von der 2024 abgewählten rot-rot-grünen Koalition zehn Jahre lang gefördert wurden.

Landesschülersprecher Erik Sczygiol sprach sogar von einem Angriff auf den „Schulfrieden“. Dieser bedeutete bislang, „dass man reformpädagogische und Gemeinschaftsschulen in Ruhe lässt“, so Sczygiol. Auch die Landeselternvertretung Thüringen hatte die Pläne früh kritisiert. Immerhin hat die Landesregierung nach dem Protest punktuelle Ausnahmen von den neuen Regeln zugelassen.

Ursprünglich sah Bildungsminister Christian Tischner (CDU) für alle Schularten die Wiedereinführung von Kopfnoten bereits ab der ersten Klasse vor. Bislang wurden solche Noten für Mitarbeit und Verhalten nur in den Klassenstufen fünf bis acht vergeben. Auch Gemeinschaftsschulen sollten generell zur Notenvergabe ab der sechsten Klasse verpflichtet werden, was dort bisher erst ab der Stufe acht galt. „Sitzenbleiben“, also eine Klassenstufenwiederholung bei nicht ausreichenden Leistungen, soll auch schon ab der sechsten Klasse angeordnet werden können.

Lehrerverband und Philologenverband stehen hinter den Verschärfungen. Claudia Koch von der Landeselternvertretung erkennt in den öffentlichen Stellungnahmen eine unter Lehrern weit verbreitete repressive Grundeinstellung. Sie glaubt, dass Lehrkräfte in den Noten und dem Durchfallenlassen vor allem eine willkommene Handhabe gegen unbequeme Schüler und notorische Störer sehen.

Applaus von Lehrerverbänden

Auch die Thüringer Handwerkskammer verspricht sich von mehr Zwang eine bessere Vorbereitung auf das Berufsleben. Präsident Stefan Lobenstein glaubt sogar, dass Kopfnoten soziale Kompetenz und Verantwortungsbewusstsein fördern. Eine MDR-Fernsehdiskussion im April offenbarte, dass auch erhebliche Teile der Elternschaft einen strafferen Durchgriff der Schule befürworten.

Landesschülersprecher Erik Sczygiol hingegen ist sich sicher, dass die Maßnahmen einen Schritt zurück in Richtung antiquierte „Paukschule“ bedeuten. „Also klassisches Bulimielernen befördern.“ Individuelle Neigungen und Förderungen blieben so auf der Strecke, sagte Sczygiol. „Wir wollen ja lernen! Aber Druck macht nicht so viel Spaß wie intrinsische Motivation.“ Sczygiol plädiert für ein an der Schule bewusst praktiziertes Gegenideal zu omnipräsenten kapitalistischen Konkurrenzmustern. „Schüler leiden unter den dauerhaften Vergleichen. Jeder Vierte kämpft laut Studien mit mentalen Problemen!“ Wettbewerb an sich sei förderlich, „aber nicht in dem Ausmaß“.

Auch für die Landeselternvertretung konstatiert Sprecherin Claudia Koch einen Rückwärtstrend zur Old School, „um mit dem Zurückholen Problemen der aktuellen Zeit zu begegnen“. Also zurück zu mehr Zucht und Ordnung durch engere Normen, die von allen erfüllt werden müssen. Angesichts komplexer Problemlagen in der heranwachsenden Generation sehnten sich Eltern wie Lehrer nach einfachen Lösungen. „Wenn der sich nicht benimmt, schmeißt ihn doch einfach raus“ sei das Motto.

Was Koch verwundert, ist, wie sehr auch viele Eltern diesen Kurs für den richtigen halten. Oft hört sie: „Mir hat etwas Härte auch nicht geschadet.“ Aber wer kann das einschätzen? „Man sollte nicht aus eigenen früheren Schulerfahrungen auf das schließen, was heute passieren muss“, fordert Koch.

Die Sprecherin ist aber dankbar, dass der harte Schlag gegen die der CDU suspekten Gemeinschaftsschulen vorerst ausblieb. Der Protest von Eltern und Schüler blieb bei dem seit dem vorigen Herbst amtierende Bildungsminister Tischner nicht unerhört. Über seine Stellung in der Thüringer CDU wird viel spekuliert. Aber immerhin kann er mit dem Pfund wuchern, seinen Wahlkreis in Greiz gegen den dorthin aus dem katholisch-renitenten Eichsfeld geflohenen AfD-Spitzenkandidaten Björn Höcke bei der Landtagswahl 2024 gewonnen zu haben. Jedenfalls ließ Tischner wichtige Ausnahmen für Gemeinschaftsschulen und solche mit reformpädagogischen Konzepten zu.

Kopfnoten kosten Millionen

Während an Regelschulen Mitarbeit und Verhalten ab Klasse drei benotet werden, dürfen diese Schulen weiterhin bei einer verbalen Einschätzung bleiben. Sie müssen auch Versetzungsentscheidungen erst ab Klasse acht treffen. Für etwa 90 Prozent der Schulen bleiben aber harte Kriterien wie die Möglichkeit des Sitzenbleibens ab Klasse sechs. „Aus pädagogischer Sicht bietet die frühere Versetzungsentscheidung die Chance, Leistungsrückstände frühzeitig zu erkennen und dem Kind in seiner Entwicklung bestmöglich gerecht zu werden“, begründet dies Minister Tischner.

Vorerst ist Ruhe in die Debatte eingekehrt. Die Landeselternvertretung ist zufrieden, dass reformpädagogische Schulen ihre Konzepte weiterführen können. Man werde aber sehr genau hinschauen, wie die praktischen Umsetzungsmechanismen, die Wertungsrichtlinien an die Lehrer ausfallen, und ob sie zu Diskriminierungen führen, kündigt Claudia Koch an. Sie vermutet, dass Lehrer und Lehrerinnen auch weiterhin ihre subjektiven Spielräume nutzen und sehr persönlich benoten werden.

Wie ein Kommentar zur Thüringer Kehrtwende mutet eine Studie des ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts vom Juli dieses Jahres an. Demnach haben Kopfnoten nicht nur keinen Einfluss auf den Bildungserfolg und den Berufseinstieg. Der Zeitaufwand bei Pädagogen für deren Ermittlung kostet laut ifo außerdem der Bundesrepublik hochgerechnet 206 Millionen Euro pro Jahr.

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15 Kommentare

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  • Zu meiner Zeit konnte man auch schon in der ersten Klasse sitzenbleiben - aber das war ein anderes System, die Kinder wurden später eingeschult, es gab Unterricht und Zensuren ab dem ersten Tag. Nach einem Jahr konnten ALLE fließend lesen und ab der dritten Klasse gab es Bruchrechnung.

    Ich bin geteilter Meinung. Für mich war das genau das richtige System; ich habe die 10-klassige POS mit 1,0 abgeschlossen (ok, Sport mit viel gutem Willen eine 2...). Frontalunterricht fand ich super. Aber klar ist jeder anders. Mein größerer Sohn wird nächstes Jahr eingeschult, und für ihn kann es ganz anders aussehen.

    Trotzdem finde ich das Einfordern von Disziplin und Anstrengung auch weiterhin richtig. Und die Möglichkeit sitzenzubleiben, ist meiner Meinung nach der größte Motivator, sich beim Lernen etwas mehr Mühe zu geben.

    Und wenn das Lernziel nicht erreicht wird, finde ich das Sitzenbleiben auch total richtig, weil man die Grundlagen braucht, um in den folgenden Klassen mitzukommen. Man tut dem Schüler keinen Gefallen, wenn man ihn durchschleppt, auch wenn er wegen seiner Defizite keine Chance hat, in der nächsten Klasse was zu lernen.

    • @Debaser:

      Die Möglichkeit sitzenzubleiben sollte keine Motivation sein, sich beim Lernen „etwas mehr Mühe zu geben“. Dann könnte man das sitzenbleiben nämlich tatsächlich als Bestrafung ansehen, und das ist es nicht. Es gibt Kindern und Jugendlichen vielmehr die Möglichkeit, ihren individuell bestmöglichen Schulabschluss zu erreichen. Viele Eltern empfinden diese Möglichkeit als „Versagen“ oder „Böse Absicht und Bestrafung“ der Schule und jeweiligen Lehrers, aber das ist nicht der Fall. Die Noten geben dem Schüler und dessen Eltern eine Rückmeldung über die Lernfortschritte. Und werden diese in einem wichtigen Fach gravierend, oder in gleich mehreren Fächern immerhin deutlich unterschritten, bzw. nicht erreicht, ist die Wiederholung des Schuljahres eine pädagogisch sinnvolle Möglichkeit den Lernstoff nachzuholen. Mir wäre eine Klasse mit nur 8 SchülerInnen auch lieber, dann könnte man andere Wege finden. Aber bei 25 - 30 SchülerInnen pro Klasse ist dies schlicht nicht zu leisten. Und die kleinen Klassen (leider) flächendeckend nicht zu finanzieren…

  • Ich finde den Einstieg interessant. Da wird darüber berichtet, dass Schüler heutzutage mehr Stress und Druck haben als früher. Deshalb sollte man am besten nicht noch den Druck erhöhen, indem man Kopfnoten verteilt. Ich komme zwar aus einem anderen Bundesland, aber bei uns ist es ähnlich. Kopfnoten wurden gegenüber früher abgeschafft/abgeschwächt, aber der Druck stieg. Das ist für mich eigentlich ein Zeichen dafür, dass die Kopfnoten nicht unbedingt für den Druck verantwortlich sind.

  • Anstatt dummes Zeug zu labern sollten sich die Politiker ein Beispiel an den PISA-Testsiegern nehmen.



    Aber dann kämen unliebsame Wahrheiten wie eine über Jahrzehnte völlig fehlgeleitete Schulpolitik und insbesondere hahnebüchenes Förderversagen ans Tageslicht.

  • Haben alle vergessen, wie sehr sie sich gefreut haben, endlich in die Schule zu kommen?



    Und einige Wochen später war der Zauber verflogen.



    Das kann man für normal halten, wenn es allen so geht. In Wahrheit lernen Kinder aber wahnsinnig gerne.

    Das wird ihnen in unserem Schulsystem leider ganz schnell ausgetrieben. Stattdessen wird ihnen eingetrichtert, dass es nur dann Arbeit ist, wenn es weh tut.

    • @WelleErdbeer:

      Ich weiß nicht wo Sie oder Ihre Kinder zur Schule gehen. Aber MEINE Tochter geht gerne in die Schule. Ging sie in der 1. Klasse und auch 8 Jahre später freut sie sich auf die Schule (auch wenn ihr die Sommerferien natürlich lieber sind). Dazwischen lagen zig LehrerInnenwechsel plus der Wechsel an die weiterführende Schule. Alles ohne Probleme. Und das Lernen macht ihr vielleicht nicht immer Spaß (so wie mir meine Arbeit auch nicht immer Spaß macht), aber das es "weh tut", oder ihr dies "eingetrichtert" wird ist natürlich vollkommener Schwachsinn. Es gibt nicht DAS Schulsystem. Es gibt unterschiedliche Schulen mit ganz unterschiedlichen Lehrern für Millionen von Kindern mit jeweils ganz individuellen Bedürfnissen. Zu glauben diesen immer einhundertprozentig gerecht zu werden ist utopisch.

  • Warum wird Sitzenbleiben vor Klasse acht so kritisch gesehen? Wo ist das Problem, wenn jemand ein Jahr länger braucht, um eine bestimmte Klassenstufe zu schaffen?

    • @la suegra:

      Das Kind fliegt aus dem Klassenverband. Zudem kann es als Sitzenbleiber stigmatisiert werden.

      • @MHtaz:

        Und was ist die Alternative? Nehmen wir mich als Beispiel: Ich bin in der 9. Klasse sitzengeblieben. Warum? Wegen einer 6 in Mathe. Ich bin sogar auf besonderen Wunsch des Lehrers sitzengeblieben, man hätte argumentieren können, dass ich die Minderleistung durch gute bis sehr gute Noten in anderen Fächern ausgleichen konnte. Aber es war die richtige Entscheidung. In manchen Fächern mag es völlig egal sein. Und wenn ein Kind wegen Minderleistungen in Religion, Sport und Musik sitzenbleibt finde ich das auch fragwürdig. Aber Mathe (und auch andere Fächer) baut permanent aufeinander auf, ich hätte auch in den folgenden Jahren nie den Anschluss geschafft. Der neue Klassenverband ist verkraftbar (es gibt auch Kinder, die durch einen Umzug eine neue Klasse bekommen, die müssen auch klarkommen). Und die "Stigmatisierung" entsteht durch Kommentare wie hier unter diesem Artikel, die das Sitzenbleiben zu etwas furchtbar schlimmen machen, was einfach nicht den Tatsachen entspricht.

      • @MHtaz:

        Das stimmt zwar. Aber, als Beispiel. Sollte eine Schule bei funktionalen Analphabeten wirklich einfach wegschauen und so tun, als gäbe es keine Probleme? Ich halte nicht so viel davon, alle aus Prinzip mit durchzuschlörren. Klasse wiederholen kann durchaus sinnvoll sein, aber natürlich kommt es auf die Schule und den Einzelfall an, ob das gut gelingt. "Sitzenbleiben" sollte keine Strafe sein.

  • Momentan fließt die Bewertung des Verhaltens an staatlichen Schulen in die Fachnote ein. Es ist aber durchaus möglich, dass jemand sich nicht konform verhält und trotzdem eine 1 in Mathe hat. Heranwachsende können gar nicht mehr erkennen, wie eine Note zustande kommt.

    Der Artikel beginnt mit dem Zitieren des „Präventionsradars“ der Krankenkasse DAK. Zwei Drittel der Schulkinder fühlten sich erschöpft etc. Das mag z.B. daran liegen, dass keine Strukturen mehr zu erkennen sind, viele Stunden ausfallen und Kindern die Orientierung fehlt, die Sicherheit gibt. Das Lernen wird in der Institution Schule eher erschwert als befördert. Das könnte man jetzt valide unterlegen, dazu reicht es aber auch schon, sich Ergebnisse zum Leistungsstand, ein paar Sendungen zur Bildungsmisere und den Schulalltag der eigenen Kinder anzuschauen.

  • Wir wissen seit Jahrzehnten, das Zensuren generell völlig sinnlos sind und absolut keine Aussagekraft haben.



    Schulen haben nicht die Aufgabe Wissen zu vermitteln, das ist eine glatte Lüge. Sie sollen aus kreativen, neugierigen Kindern wahlweise willige Arbeiter oder systemkonforme Führungskräfte machen.

    • @Freundlicher:

      D.h. du hast du Schule geschwänzt, weil du anders denkst?

    • @Freundlicher:

      Ich bin selber Lehrer. Sie sagen also, meine Aufgabe ist es NICHT "Wissen zu vermitteln", sondern "willige Arbeiter und systemkonforme Führungskräfte zu machen". Im Ernst?! Ich bin mir sicher, dass Sie dann selber in der Ausbildung zur Lehrkraft waren und dies dort erkannt haben. Oder woher kommt Ihre Meinung/Haltung? Oder sind Sie einer von diesen Eltern, die am ersten Elternabend des eigenes Kindes in der Grundschule der Klassenlehrerin erklären wollen, wie EIGENTLICH zu unterrichten wäre ("Ich hab da gerade ein Buch von Sascha Lobo gelesen, der findet das auch!"). Hab ich selbst als Elternteil in der 1. Klasse meiner Tochter erlebt. ICH hätte da als Lehrer nicht ernst bleiben können... War der Rest der Elternschaft zum Glück auch nicht und hat erstmal lauthals angefangen zu lachen. Wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass Sie ihre obige Aussage wirklich ernst meinen, würde ich das jetzt auch tun. Aber BITTE: Beantworten Sie mir doch die Frage, wie Sie dazu kommen, es würde mich WIRKLICH interessieren...

  • Mittelalter 👎