Therapeutin über psychisch kranke Eltern: „Sich einmischen ist immer gut“
Psychisch kranke Menschen machen ihre Kinder zu Eltern und beuten sie so mitunter emotional aus, sagt Renate Höhfeld.
taz.am wochenende: Frau Höhfeld, Sie sind Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und arbeiten auch mit Kindern, deren Eltern psychisch krank sind. Bis zu vier Millionen Kinder in Deutschland sollen betroffen sein. Das klingt, als wäre es der Normalzustand.
Renate Höhfeld: Das ist nicht der Normalzustand. Die meisten Eltern sind gesund und können sich einfühlen in ihre Kinder und deren Bedürfnisse aufnehmen.
Was ist bei Eltern mit psychischer Erkrankung in der Beziehung zu ihrem Kind anders?
Solche Eltern können ihre Elternfunktion teilweise nicht wahrnehmen. Etwa können sie die Tagesstruktur nicht einhalten. Es kann sein, dass dem Kind Sachen fehlen, dass es zu spät zur Schule kommt, dass es sich sogar fürchtet, in die Schule zu gehen, weil es denkt, wenn es nicht auf Mama und Papa aufpasst, passiert etwas Schreckliches.
Anstatt dass Eltern auf Kinder aufpassen, ist es umgekehrt?
Damit übernehmen die Kinder Elternfunktionen für sich und die Eltern, das ist ein ganz auffälliger Aspekt in solchen Familien. Die Kinder werden parentifiziert.
Jahrgang 1943,ist analytische Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und praktiziert seit 35 Jahren in Berlin.
Was wiegt schwerer, wenn der Vater oder die Mutter krank ist?
Schwer wiegt, dass die Eltern als Elternpaar nicht funktionieren können, wenn einer psychisch krank ist. Ein Kind braucht, um gut aufzuwachsen, die Paarsituation, und zwar dass es ein gutes Zusammenwirken von beiden gibt. Ist einer krank, zerfällt das Elternpaar. Es kann sein, dass das Kind das spürt und die Eltern gegeneinander ausspielt.
Was ist mit Alleinerziehenden?
Das heißt ja, dass eine Mutter oder ein Vater beide Funktionen übernehmen muss, mütterlich und väterlich sein muss, was schwer ist. Wenn derjenige dann noch ausfällt und krank ist, wäre eigentlich von Amts wegen Sorge zu tragen.
Und das passiert?
Offensichtlich nicht. Erst wenn das Kindeswohl gefährdet ist und das im Außen deutlich wird, wird eventuell eingegriffen. Wenn etwa ein Kind im Kindergarten nicht spielen kann, keine Freunde hat, gucken erfahrene Erzieherinnen genauer hin. Dann bemerken sie vielleicht Irritierendes in der Art, wie sich die Kinder zurückziehen. Auffälliger allerdings werden die Kinder im Schul- und Jugendalter.
Das Kind wird auffällig, heißt das, man pathologisiert es?
Es geht nicht um Pathologisierung. Das Kind stellt dar, dass es Hilfe braucht. Durch Unruhe, depressiven Rückzug, Unfallneigung, somatische Schmerzen, Bauchschmerzen etwa, die verhindern, dass es aus dem Haus muss. Das Kind kann ja nicht benennen, worunter es leidet, die schwierige Situation zeigt sich aber körperlich.
Wie wird die Kindesentwicklung durch die psychische Krankheit der Eltern gestört?
Sie müssen sich das so vorstellen: Eine Entwicklung erfolgt, indem Projektionsprozesse hin und her gehen. So entsteht auch Bindung. Nehmen wir das Thema Angst. Das Kind projiziert seine Ängste in die Mutter. Die psychisch kranke Mutter macht aber dicht und sagt vielleicht: „Huch, das kann ich gar nicht ertragen.“ Oder: „Du hast keine Angst, du bildest es dir ein, es ist niemand unterm Bett.“ Die Mutter lässt die Angst des Kindes an sich abtropfen. Das Kind kann seine Ängste nicht in sie projizieren, weil sie keinen Raum hat, weil sie selbst voll von Angst ist. Wenn die Ängste der Mutter aus ihrer eigenen Kindheit stammen, spricht man von ‚Gespenstern der Eltern im Kinderzimmer‘ oder von ‚transgenerational weitergegebenen Traumata‘. Die Mutter kann das Anliegen des Kindes nicht verarbeiten, sondern fühlt sich von ihm angesteckt und hält dann auf dramatische Weise das, was das Kind an sie heranträgt, von sich fern. Da steht das Kind alleine da und wird krank, weil ihm niemand hilft.
Die psychisch kranke Mutter gibt falsche Signale.
Falsche Signale ist zu einfach. Es werden irritierende Botschaften an das Kind herangetragen, die es nicht entschlüsseln kann. Es entsteht keine Symbolbildung bei den Eltern mit dem Kind. Sie sind nicht in der Lage, die Ängste des Kindes auszuhalten und spielerisch zu mildern, sie sagen nicht: „Oh, schau mal, was da aus der Ecke springt, ist das ein Teufelchen? Spiel doch mal den kleinen Teufel. Was macht der?“ Sodass das Kind die Angst im Gegenüber sehen kann. Und die Mutter sagt dann meinetwegen: „Jetzt habe ich aber große Angst vor dem Teufelchen, oh, ich muss mich verstecken.“ Das ins Spiel zu überführen und so die Ängste zu bearbeiten, das können diese Eltern nicht.
Versucht das Kind, die Irritationen, die die Eltern aussenden, zu kompensieren und Ordnung in ein Chaos zu bringen, ohne Vorstellung von Ordnung und Chaos zu haben?
Genau. Zudem entwickelt es eine Allmachtsvorstellung. Das ist die Folge der Parentifizierung. Betroffene Kinder denken, einzig sie können den Eltern helfen. Das dauert oft so lange, bis das Kind zusammenbricht, weil es bis dahin Funktionen übernommen hat, die Eltern zu schonen, zu trösten, zu beruhigen, vom Alkohol abzuhalten. Die Kinder übernehmen diese Rollen, die nicht kindgerecht sind. Man kann sogar sagen: Damit beuten diese psychisch kranken Eltern unbewusst ihre Kinder aus.
Das ist ein starkes Wort: ausbeuten.
Die Kinder sind so flexibel, das Ich ist noch so schwach, sie können sich dagegen nicht wehren.
Für das Kind ist das Verhalten der Eltern das Normale. Was passiert, wenn andere aber sagen: Deine Mutter spinnt?
Es entwickelt ein großes Schamgefühl. Die Kinder laden dann etwa Freunde nicht nach Hause ein. Oder bei Alkoholikern sehen wir immer wieder, dass das Kind verstummt und so die Eltern schont und schützt. Das geht durch alle sozialen Klassen. Die Kinder versuchen, alles zu stabilisieren und das, was dahinter ist, zu verschweigen.
Bei Versuchen mit Menschenaffen, wo die Affenmutter stark sediert wurde, versucht das Affenkind ununterbrochen, seine Mutter wachzurütteln.
Das können Sie direkt übertragen auf depressive Mütter und ADHS-Kinder, die die Mütter durch Unruhe immer wieder anstoßen: „Mama reagier doch.“ Sie tun alles, damit die Mutter in Bewegung kommt.
Wie ist es, wenn diese Kinder ADHS-Medikamente kriegen?
Ein Riesenproblem. Viele Kinder mit psychisch kranken Eltern sind überfordert, sind am Ende, sind müde, aber unruhig. ADHS-Kinder sind aufgedreht und unruhig. Wenn so ein Kind in der Schule auffällig wird, nicht am Platz sitzt, rumtobt, kriegt es ein Mittel, um durchhalten zu können, Methylphenidat. Das ist ein Aufputschmittel, ist Speed, das bei Kindern aber beruhigend wirkt. Die Kinder müssen nicht aufdrehen, wenn sie Speed kriegen, es hält aber ihre Aufmerksamkeit wach. Die würden einschlafen, wenn man ihnen den Rahmen gäbe, sie sind völlig erschöpft durch ihre ständige Unruhe und halten sich wach, um die Eltern und ihr Umfeld zu kontrollieren. Wenn ich so einem Kind sage, so, jetzt setzt dich erst mal hin, dann sieht man erst, wie müde und überfordert es ist. Manche schlafen sofort ein.
Erleben Sie das in der Therapie?
Sicher. Einmal umwickelte sich ein Jugendlicher mit dem Tau, das ich in der Praxis habe, und sagte: Ich bleib jetzt hier sitzen. Und dann legt er den Kopf auf den Tisch und schläft.
Was machen Sie dann?
Ja, der schläft dann, und wenn die Stunde zu Ende ist, ist sie zu Ende. Das heißt doch: In meiner Gegenwart kannst du ruhig sein. Ich halte das aus, wenn du mich nicht unterhältst.
Reagieren betroffene Mädchen und Jungen verschieden?
Jungen sind eher nach außen gewandt, zeigen Störungen mit aggressivem Ausdruck, greifen andere Kinder an. Allerdings gibt es auch Kinder, die auffällig werden, weil sie ruhiger werden – besonders Jungen, die dann sehr an der Mutter hängen, dicklich werden, eine andere Körperform kriegen. Die lassen ihre Aggressionen schön drin. Mädchen dagegen sind eher so, dass sie die Aggression gegen das eigene Selbst richten, also etwa magersüchtig sind, selbstverletzend, sich zurückziehen.
Kriegen Jungen, da sie Aggression zeigen, früher Hilfe?
Betroffene Jungen kommen oft 8-, 9-, 10-jährig in die Therapie. Mädchen eher ab der Pubertät.
Was können Sie in der Therapie erreichen?
Eine Abgrenzung zwischen Mutter und Kind. Eine Ich-Entwicklung des Kindes. Die Aufnahmebereitschaft der Eltern für die Weiterentwicklung, wir arbeiten ja auch mit den Eltern, sodass diese die Projektionen aufnehmen, innerlich verarbeiten und dem Kind abgemildert zurückgeben. Ich habe leider auch erlebt, dass mit dem Gesundwerden der Kinder die psychisch kranken Eltern kränker wurden. In einem Fall hat die Mutter dem Mädchen Suizid angekündigt, während es in der Therapiestunde war. Als das Mädchen es mir sagte, rief ich sofort die Feuerwehr und fuhr selbst hin, es stimmte. Die Mutter wurde gerettet, versuchte es erneut, ließ sich danach aber behandeln. Gut war, dass das Mädchen sah, wie krank die Mutter ist, und sich distanzieren konnte. Als sie in die Therapie kam, war sie gerade das dritte Mal sitzen geblieben, wurde aber doch weiter beschult. Eines Tages kam sie, die vorher nur Fünfen und Sechsen schrieb: „Frau Höhfeld, ich habe eine Eins.“ Später ist sie Erzieherin geworden. Das war ein gutes Ergebnis.
Noch mal zur hohen Zahl von Betroffenen. Ist psychische Erkrankung von Eltern ein Phänomen unserer Zeit?
Nein. Vor allem durch den Krieg wurde viel psychisches Leid ausgelöst, das in die nachfolgenden Generationen getragen wurde. Viele Kinder konnten das gut kompensieren, können arbeiten, lieben, genießen, Verantwortung übernehmen. Aber eben nicht alle.
Gab es da auch Psychotherapie für Kinder?
Ja, das gab es schon sehr früh, und sehr früh wurden auch die Kosten übernommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Amerikaner das ebenfalls gefördert, dass die Kosten für Psychotherapie übernommen werden. Und zwar als Demokratisierungsprozess der Deutschen.
Weil man wusste, da ist ein Volk von Traumatisierten?
Nicht nur das, sondern auch von Nazis.
Was ist Ihre Forderung an die Gesellschaft, um die Not der Kinder von psychisch kranken Eltern zu lindern?
Aufmerksamkeit aller, die mit dem Kind zu tun haben. Man soll keine Angst davor haben, durch Einmischung die Eltern herabzuwürdigen.
Sich einmischen also?
Ja, das war immer schon gut.
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